Chance verpasst
Der AZ-Vize-Chefredakteur Georg Thanscheidt über die Union und das Ehegatten-Splitting.
München - Die Union hat am gestrigen Freitag eine historische Chance verpasst. Die Gelegenheit, als konservative Partei mit einem Schlag in der Neuzeit, im 21. Jahrhundert, anzukommen. Viel hätte es dazu nicht bedurft: Man hätte nur ein Verfassungsgerichtsurteil richtig verstehen und dessen große Tragweite erkennen müssen. Und es in ein Konzept, in ein oder mehrere Gesetze ummünzen müssen.
Nichts davon hat die CDU/CSU getan. Ganz im Gegenteil. Wie ein trotziges Kind hält sich die Union die Hände vors Gesicht in der irrigen Annahme, so könne man ein Gerichtsurteil und mit ihm gleich die ganze unerwünschte gesellschaftliche Realität unsichtbar machen. Der Gipfel dieser Realitätsverweigerung ist Volker Kauders Satz: „Für uns gibt es die Homo-Ehe nicht.“
Die Union argumentiert in dieser Sache gerne mit dem Grundgesetz, genauer gesagt mit Artikel 6, nach dem Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze des Staates stehen. Wie das das Verfassungsgericht versteht, hat es sowohl durch das Urteil zur Adoption wie nun auch mit dem zum Splitting klargemacht. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Staat nur die Ehe, die Familie schützen soll, in der der Mann Alleinverdiener ist. Der Schutzauftrag – der im übrigen nichts mit steuerlicher Förderung zu tun hat – gilt für alle Lebensgemeinschaften, alle Familien. Diesen ernst zu nehmen, ihn in ein Familiensplitting umzusetzen, das wäre mal ein konservatives Projekt. Übernehmen Sie, Herr Kauder!