Bundestagwahl: "Wer nicht wählt, darf auch nicht motzen"
Der 65-jährige Professor der Freien Universität Berlin ist einer der bekanntesten Politologen Deutschlands. Wir haben ihn einen Tag vor der Bundestagwahl zum Interview getroffen.
AZ: Herr Professor Niedermayer, welchen Parteien nutzt ein Nicht-Wähler am meisten?
Oskar Niedermayer: Früher hat man die allgemeine These gehabt, dass eine niedrige Wahlbeteiligung den radikalen Parteien an den Rändern nutzt und den Volksparteien schadet. Bei den Landtagswahlen 2016 war’s allerdings genau umgekehrt. Da ist die Wahlbeteiligung dramatisch gestiegen und genützt hat es insbesondere einer Partei am Rand: der AfD. Eine allgemeine These kann man also nicht mehr aufstellen.
Was bewegt Bürger dazu, kein Kreuzerl zu machen? Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher sollte doch Motivation genug sein. Immerhin haben viele Menschen ihr Leben riskiert, damit wir heute unserer Stimme Gehör verschaffen dürfen.
Das hat unterschiedliche Gründe. Es gibt schon mal vier, fünf Prozent technische Nicht-Wähler, die ihre Briefwahlunterlagen zu spät abgeschickt haben oder krank geworden sind. 100 Prozent Wahlbeteiligung wird es nie geben.
Bei den echten Nicht-Wählern unterscheide ich zwischen drei Gruppen. Die ersten sind die Desinteressierten, die sich schlicht und einfach nicht für Politik interessieren. Ausreden wie "Die Parteien sind doch eh alle gleich" lasse ich hier übrigens nicht gelten. Man muss nur das Programm der Linken mit dem der AfD vergleichen.
Die zweite Gruppe sind die Unzufrieden, die mit den Parteien, den Politikern oder dem System an sich nichts mehr anzufangen wissen. Die bleiben aus Frust zuhause. Die dritte Gruppe sind abwägende Leute. Die entscheiden sich von Wahl zu Wahl, ob sie hingehen oder nicht. Diese Gruppe ist vor allem dafür verantwortlich, dass wir unterschiedlich hohe Wahlbeteiligungen bei Landtags-, Europa- und Bundestagswahlen haben.
Was würden Sie einem Nichtwähler ins Gesicht sagen?
Ich würde sagen, dass eine Demokratie davon lebt, dass die Bürger ihr Recht, sich an der Politik zu beteiligen, wahrnehmen. Jemand, der nicht zur Wahl geht, darf danach auch nicht über die Politik motzen. Er hätte es selbst in der Hand gehabt, etwas zu ändern.
Viele wählen aus Protest Kleinstparteien, etwa die Satiriker von "Die Partei". Solch eine Proteststimme nützt doch vor allem den Großen, oder? Denn je höher der Stimmenanteil aller sonstigen Parteien ist, umso weniger Stimmen brauchen die großen Parteien, um prozentual eine Mehrheit im Bundestag zu erreichen.
Ja, umso weniger braucht jede mögliche Koalition. Wenn die Leute Kleinstparteien wählen, verschenken sie praktisch ihre Stimme. Das mag zwar individuell begründet sein, aber es ist eben so, dass die Stimme bei der Verteilung am Ende nicht zählt. Wenn 10 Prozent ihr Kreuzchen bei Kleinstparteien machen, brauchen die großen Parteien nur 45 Prozent, um die Mehrheit zu erreichen.
Welcher möglichen Koalition würde derzeit eine Proteststimme am meisten nützen?
So wie es aktuell in den Umfragen aussieht, würde jede Proteststimme die Chance auf ein Zweier-Bündnis von Union und FDP erhöhen, denn Schwarz-Gelb ist knapp unter der Mehrheitsgrenze, da fehlen nur ein bis zwei Prozentpunkte.
Die Deutschen sind offensichtlich wieder politischer geworden. Liegt das vor allem an der Flüchtlingskrise 2015?
Ja, natürlich. Das war eine ganz zentrale Mobilisierungsgeschichte. Allerdings nicht nur alleine für die AfD, es gibt auch eine Gegenmobilisierung. Eine ganze Reihe von Initiativen versucht, gerade jüngere Leute zur Wahl zu bewegen, um eben ein Zeichen gegen Rechts zu setzen. Über die Flüchtlingspolitik hinaus hat es im Wahlkampf jedoch kein zentrales Mobilisierungsthema gegeben.
CDU/CSU liegen derzeit schier uneinholbar vorne. Wird das auch am Wahlabend so ein?
Es besteht zumindest die Gefahr einer Demobilisierung der Unions-Wähler. Viele könnten sich sagen: "Meine Partei hat ja schon gewonnen, da muss ich nicht unbedingt zur Wahl gehen." Das ist etwas, was der Union Sorgen machen muss.