Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung Ferda Ataman: "Im Kern geht es um Freiheit"

AZ-Interview mit Ferda Ataman: Die 43-jährige Politologin absolvierte die Berliner Journalisten-Schule und ist seit Juli 2022 Unabhängige Bundesbeauftragte fürAntidiskriminierung. Sie wuchs in Nürnberg auf.
AZ: Frau Ataman, die Wogen um Ihre Ernennung haben sich, so scheint es, geglättet. Sie haben angekündigt, diplomatischer sein zu wollen. Sind Sie aber nicht gerade wegen Ihrer oft auch provokanten Aussagen von der Politik vorgeschlagen und gewählt worden?
FERDA ATAMAN: Keine Sorge, ich werde auch weiterhin meine Stimme für diejenigen erheben, die Diskriminierung erleben. Und ich glaube, das ist nötiger denn je. Diskriminierungen finden nach wie vor statt. Und nur, wenn wir darüber sprechen, können wir auch etwas ändern. Auch der ältere Mann, der seinen Job aus Altersgründen verliert, oder die Rollstuhlfahrerin, die auf dem Weg zur Arbeit auf Barrieren stößt, erleben Diskriminierung. Und die müssen wir bekämpfen, statt Diskriminierung als "Identitätspolitik" abzutun.

Wie weit werden Sie sich von dem entfernen, was Sie - in der Öffentlichkeit - bislang ausgemacht hat? Fühlen Sie sich auch eingeschränkt durch das Amt?
Unabhängige Bundesbeauftragte zu sein ist ein Traumberuf - gepaart mit einer großen Verantwortung. Ich mache keine Regierungspolitik, sondern habe vom Bundestag ein unabhängiges Mandat bekommen, um Gleichbehandlung durchzusetzen. Leider legt unser Recht Betroffenen zu viele Steine in den Weg. Das fängt bei den viel zu kurzen Fristen von nur acht Wochen an, in denen sich Menschen rechtlich gegen Diskriminierung wehren können. Auch stehen Betroffene im Fall der Fälle allein vor Gericht und tragen das Prozessrisiko. Wie in vielen anderen EU-Ländern auch sollten die Antidiskriminierungsstelle und Verbände ein Klagerecht bekommen, um betroffene Menschen zu unterstützen. Und wir sollten endlich Diskriminierungen durch staatliche Stellen in das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das AGG, aufnehmen - bislang steht das nicht drin. Die Bundesregierung hat eine Reform angekündigt. Ich hoffe, sie ist hier ehrgeizig.
"Seit Black Lives Matter sehen wir einen Bewusstseinswandel"
Kann das Ziel, niemanden mit Worten zu verletzen, letztlich wichtige Debatten behindern?
Die Frage verstehe ich nicht. Inwiefern soll eine respektvolle Ansprache von schwarzen Menschen, Sinti und Roma oder anderen ganze Debatten verhindern? Wir konnten in den letzten Jahren eher beobachten, dass viele Leute das Gefühl haben, die menschenfeindlichsten Dinge sagen und tun zu können. Mich freut daher, dass wir seit der Debatte um Black Lives Matter und den Tod von George Floyd einen Bewusstseinswandel sehen: Menschen machen sich klar, dass Benachteiligungen, die sie erleben, nicht in Ordnung sind, und dass sie dagegen vorgehen können. Ich finde, das sollten wir unterstützen, wo wir können.
Es wurde, auch von Menschen mit Migrationsgeschichte, kritisiert, Sie würden Diskriminierung zu einseitig betrachten, also nur von der Mehrheitsgesellschaft ausgehend und nicht auch von Zugewanderten. Wie wollen Sie diese Kritiker von sich überzeugen?
Da reicht schon ein Blick in unser Grundgesetz und in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, um hier Klarheit zu schaffen: Diskriminierung ist ein Thema für alle. Es geht schlicht darum, Menschen nicht wegen ihres Alters, einer Behinderung, aus rassistischen oder antisemitischen Gründen, wegen ihres Geschlechts, ihrer Religion und Weltanschauung oder wegen ihrer sexuellen Identität schlechter zu behandeln als andere. Im Kern geht es also um Freiheit: die Freiheit nämlich, am Arbeitsleben oder auf dem Wohnungsmarkt oder im Nahverkehr teilhaben zu können. Das zu verhindern - zum Beispiel, weil es Vorurteile gibt - ist Diskriminierung.
Vor 15 Jahren wurde im Rahmen der Ausbildung an der Journalistenschule über Berufschancen gesprochen. Die waren damals nicht rosig. Es fiel der Satz, Sie würden bestimmt etwas finden - mit Ihrem türkischen Hintergrund. War das rassistisch, auch wenn es nicht so gemeint war und auch nicht so aufgefasst wurde?
Das ist sogenannter positiver Rassismus - angeblich gut gemeint, spricht dem Gegenüber aber fachliche Kompetenzen ab.
War man vor 15 Jahren gelassener oder unaufgeklärter?
Kommt darauf an, wen Sie mit "man" meinen. Ist es Gelassenheit, dass unsere Gesellschaft vor 15, 20 Jahren sexuelle Belästigung viel zu wenig geahndet hat? Ich halte es für einen Fortschritt, dass viele Frauen sich Sexismus im Alltag oder im Job heute nicht länger gefallen lassen und dass bekannt ist, dass Sexismus falsch ist. Genau da sollten wir bei allen Formen von Diskriminierung hin.
Nach der Aufregung um Ihre Äußerungen zur Bezeichnung von Deutschen ohne Migrationshintergrund als "Kartoffeln" war bislang wenig von Ihrer neuen Aufgabe zu lesen. Wie sind Ihnen bislang Menschen begegnet, die sich mit ihren Sorgen an Sie wenden? Welche Hoffnungen werden mit Ihrer Arbeit - Ihr Amt war lange verwaist - verbunden?
Ich bekomme sehr viele positive Rückmeldungen von Menschen aus ganz verschiedenen Communities, was mich sehr berührt. Und mein Amt der Unabhängigen Bundesbeauftragten, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes leitet, wurde in diesem Frühjahr überhaupt erst geschaffen. Ich bin jetzt auch damit beschäftigt, das Amt zu etablieren.
Einen repräsentativen Überblick darüber, wie groß das Problem der Diskriminierung in Deutschland ist, gibt es bislang nicht. Stattdessen sorgen Themen wie das Gendersternchen für Aufregung. Ist echte Gleichberechtigung nicht wichtiger als im wahrsten Sinne des Wortes Lippenbekenntnisse, sollte nicht beispielsweise die katholische Kirche vielmehr über Priesterinnen nachdenken als mit Gendern Gleichberechtigung vorzugaukeln?
Im Kern bin ich bei Ihnen. Rechtliche und strukturelle Änderungen sind besonders wichtig, wenn es um gesellschaftlichen Fortschritt geht. Aber ich muss korrigieren: Es gibt eine Menge Zahlen zum Ausmaß von Diskriminierung im Alltag. Zum Beispiel hat das Sozio-Ökonomische-Panel, eine der renommiertesten Großbefragungen in Deutschland, 2020 gezeigt, dass 16 Prozent der deutschlandweit repräsentativ Befragten von Diskriminierungserfahrungen in den letzten fünf Jahren berichtet. Das sind Millionen Menschen. Und was das Gendern betrifft: Ich finde, wir können inklusiv sprechen und gleichzeitig Diskriminierung abbauen. Da brauchen wir kein Entweder-Oder.
"Corona hat gezeigt, wozu Altersstereotype führen können"
Sie wollen sich besonders dem Thema Altersdiskriminierung widmen. Inwiefern besteht da aus Ihrer Sicht ein besonderer Bedarf?
Das Thema Altersdiskriminierung spielt in öffentlichen Debatten bislang kaum eine Rolle. Ich will das ändern. Denn wer älteren Menschen Job-Perspektiven nimmt, weil sie angeblich "zu alt" sind, raubt ihnen die Chancen, am Arbeitsleben teilzuhaben. Das ist nicht nur Diskriminierung, sondern in Zeiten des Arbeitskräftemangels auch ökonomisch falsch. Aus der Befragung, die ich eben genannt habe, wissen wir: Altersdiskriminierung wurde von allen Diskriminierungserfahrungen mit 21 Prozent am zweithäufigsten genannt. Auch über Vorurteile gegenüber älteren Menschen sprechen wir viel zu wenig. Dabei haben wir gerade in der Corona-Pandemie gesehen, zu was stereotype Altersbilder führen können - zum Beispiel bevormundende Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen oder auch Regelungen zur Maskenpflicht in Senioreneinrichtungen.