BRK-Sanitäter in der Ukraine: "Frauen, Kinder, Mütter, Großmütter, die einfach nur ins Leere starrten"
AZ-Interview mit Christian Strohschein: Der 44-Jährige ist Notfallsanitäter beim Bayerischen Roten Kreuz im Kreisverband Aschaffenburg.

AZ: Herr Strohschein, Sie sind erst vor gut einer Woche von einem humanitären Einsatz aus dem Kriegsgebiet Ukraine zurückgekehrt. Was haben Sie dort genau gemacht?
CHRISTIAN STROHSCHEIN: Es gab kurz nach Beginn des Konfliktes eine Abfrage vom Bayerischen Roten Kreuz an die einzelnen Kreisverbände und Bereitschaften des BRK, wer mit einer Vorlaufzeit von 24 Stunden eine Rettungswagenbesatzung stellen könnte. Wir haben dann für Unterfranken unsere Rettungswagen gemeldet und dachten eigentlich alle, das ist wie so oft eine Vorabanfrage. Dann kam an einem Freitagabend um halb 8 Uhr abends der Anruf: Am Montag geht es los. Der Auftrag des Führungsstabs in München war, dass wir in Rumänien oder Moldawien eingesetzt werden und von da aus rückwärtig Flüchtlinge oder Verwundete in rettungsdienstliche Obhut nehmen, in größere Kliniken verlegen oder zu Flughäfen bringen, wo sie nach Europa verteilt werden.
Notfallsanitäter vom Bayerischen Roten Kreuz im Ukraine-Einsatz
Es kam etwas anders.
Zwei Tage später waren wir dann in Linz in Österreich. Da hieß es dann schon, es geht jetzt erstmal primär nach Moldawien, um von dort aus operativ tätig zu werden. Zu diesem Zeitpunkt wurden wir dann auch an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das IKRK, überstellt - also die Institution, die die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in Konfliktgebieten überwacht. Ich mache seit über 20 Jahren Auslandshilfen, viel in Osteuropa, aber das war auch für einen alten Hasen wie mich etwas Neues.
Wie ging es dann weiter?
Wir waren eine binationale Truppe mit Kolleginnen und Kollegen aus Israel und Deutschland, und unsere erste Aufgabe war es, Patienten aus der Südukraine - konkret aus Odessa und aus Mykolajiw - über den Landweg in die moldawische Hauptstadt Kischinau zu bringen, um sie dort auf dem Luftweg zu evakuieren. Aber es wurde schnell klar, dass wir für die rettungsdienstliche Unterstützung in die Ukraine müssen. Wir haben also unseren Einsatz nach Odessa verlegt und von dort aus die Kolleginnen und Kollegen vom ukrainischen Roten Kreuz in Mykolajiw, was dann schon sehr kontaktliniennah ist, unterstützt. Und schließlich kam die Anfrage vom IKRK, ob wir auch weiter in den Osten verlegen würden - in den Donbass. Dort hatte das IKRK immer noch ein Büro, in der Stadt Slowjansk. Und wir haben uns dann mit zwei Teams zwei Tage auf die Reise gemacht.
"Sirenen, Raketen, Explosionen: Man lernt, damit umzugehen"
Was war es für ein Gefühl, immer näher ans Kriegsgeschehen heranzurücken?
Man lernt, damit umzugehen. Damit, dass die Sirene mehrmals am Tag vor Luftangriffen warnt. Damit, dass man in einigen Kilometern Entfernung Explosionen hört. Und irgendwann hat man auch ein Gehör dafür, ob das Raketen sind, die aus dem Ort abgeschossen werden oder auf einen zukommen, also ob das "Outgoing" oder "Incoming Fire" ist.
Hätten Sie damit gerechnet - ausgehend vom ersten Anruf aus München - in einem so heftig umkämpften Teil der Ukraine zu landen?
Man hat sich damit natürlich im Vorfeld beschäftigt, teils mit ganz praktischen Fragen: Wenn einem in einem Konfliktgebiet etwas zustößt, zahlt keine Lebensversicherung. Das war natürlich auch ein Thema mit meiner Frau, die selber Notärztin ist. Wir haben vor vier Jahren gebaut und ein Teil des Hauses ist über eine Lebensversicherung gelaufen. Dass es am Ende so weit im Donbass endet, wirklich in unmittelbarer Nähe zur Kontaktlinie, war vorher nicht abzusehen. Aber die Lücken in der rettungsdienstlichen Versorgung, die wir dort vorgefunden haben, waren eben groß. Zudem hatte natürlich jeder von uns zu jeder Zeit die Möglichkeit, Nein zu sagen.
Lebensgefährliche Risiken bei BRK-Einsatz in der Ukraine
Sie haben ja gesagt. Warum?
Es war eine ganz bewusste Entscheidung. Wir waren in Kramatorsk tätig, in Bachmut, in Slowjanks, in Lusichansk und Severodonetsk. Wir waren in einem Krankenhaus in Severodonetsk, das 500 Meter von der Kontaktlinie entfernt lag. Wenn man da falsch abgebogen ist, steht man an einer Ecke, wo man besser nicht stehen sollte. Was uns unheimlich geholfen hat, war zu wissen, dass wir mit dem IKRK einen so großen Sicherheitsapparat hinter uns stehen haben. Natürlich sind Risiken da, lebensgefährliche Risiken. Aber zu sehen, wie das Schutzzeichen Rotes Kreuz in so einem Konflikt beide Parteien akzeptieren und respektieren, ist beeindruckend.
Wie läuft so ein Einsatz ab?
Die Bewegungen, die wir in diesen Gebieten nahe der Kontaktlinie durchgeführt haben, werden sowohl der ukrainischen als auch der russischen Seite mitgeteilt. Sprich, wir zeigen an, dass wir medizinische Evakuierungen durchführen werden, und dann wird das über das IKRK an beide Verteidigungsministerien gespiegelt. Von dort aus geht es bis zum jeweiligen Kompaniechef vor Ort und der sagt dann: In Ordnung, wir berücksichtigen, dass zum Beispiel zwischen 9 und 12 Uhr das Rote Kreuz tätig ist. Dementsprechend werden humanitäre Korridore offen gehalten und dort wird dann kein Beschuss durchgeführt. Wir haben aber auch erlebt, dass beide Seiten gesagt haben: Nein, morgen kommt ihr bitte nicht in diese Städte. Und dann wird da auch nicht diskutiert.
"Wir als Rotes Kreuz versorgen alle"
Das heißt, ohne Genehmigung geht nichts?
Wenn man ein sogenanntes rotes Licht bekommt, ist das zu befolgen. Das ist auch der Grund, warum Evakuierungen aus umkämpften Gebieten nicht jeden Tag stattfinden können. Oder vielleicht auch nur zu gewissen Uhrzeiten. Oder dass Evakuierungen abgebrochen werden müssen. Auch das haben wir erlebt: Wir waren zehn Kilometer vor dem Einsatzort, als wir den Anruf bekommen haben, eine Seite hätte rotes Licht gegeben. Dann macht man eine 180-Grad-Wende und fährt zurück.
Dem IKRK wurde vorgeworfen, sich nicht klar genug gegen Russland zu positionieren. Was sagen Sie dazu?
Wir als Rotes Kreuz versorgen alle von diesem Konflikt betroffenen und verwundeten Menschen. Egal, ob sie eine Uniform tragen oder nicht, egal, was für eine Flagge auf dieser Uniform ist, oder ob es Zivilisten sind. Nur diese Neutralität ist für uns der Schlüssel zum Erfolg. Sobald man anfängt, sich auf eine politische Seite zu schlagen, redet die andere Seite nicht mehr mit Ihnen. Und es liegt uns als Rotkreuzlern auch fern, darüber zu urteilen. Persönlich mag man eine Meinung haben, aber als Rotkreuzler brauchen wir die Unparteilichkeit.
Gibt es einen Moment, der Ihnen besonders im Gedächtnis ist?
Als wir in den Donbass verlegt haben, waren wir in der Nähe der Stadt Dnipro, an einem militärischen Checkpoint, den wir passieren mussten. Da kam uns ein Konvoi aus vierzehn Bussen mit Geflüchteten aus Mariupol entgegen. Meine Kollegin und ich saßen im Rettungswagen, schauten in diesen Bus rein und sahen in Gesichter von Kindern, von Frauen, von Müttern, von Großmüttern, und die starrten einfach alle nur ins Leere. Und dann haben sie uns im Rettungswagen gesehen, mit der Flagge des Roten Kreuzes und haben realisiert, dass wir jetzt dort hinfahren, in die heiße Zone, wo sie gerade herkamen. Und dann haben sie uns zugewunken. Da war eine ältere Dame, die sich bekreuzigt hat und uns einfach über Blicke und Gesten zu verstehen gegeben hat: Das, was ihr macht, ist das Richtige. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch ganz viel schlimme Szenen, zahllose Verwundete. Und auch der Tod gehört dazu. Das tut er bei uns im Rettungsdienstalltag auch, aber in einer ganz anderen Dimension. Man darf nicht vergessen, dass die Lage vor Ort auch eine humanitäre Notlage ist.
"Stellen Sie sich 400.000 Einwohner ohne Wasser vor"
Wie schlimm war die Versorgungssituation?
In Mykolajiw hatte man zu dem Zeitpunkt, an dem wir da waren, seit zwei oder drei Wochen keine Wasserversorgung mehr. Stellen Sie sich eine 400.000-Einwohner-Stadt ohne Wasser vor. Die Hilfsorganisationen haben teils 30 oder 40 Tonnen am Tag geliefert, zwei große Lkws voll. Aber das reicht natürlich nicht. Die Not ist riesig. Umso wichtiger ist das Zusammenspiel der vor Ort tätigen Organisationen.
Sie sind seit gut einer Woche zurück. Wie geht man nach so einem Einsatz mit der psychischen Belastung um, die das Gesehene auslöst?
Wir wurden den ganzen Einsatz über professionell von Psychologen betreut und hatten Kontakt zur psychosozialen Notfallversorgung des Bayerischen Roten Kreuzes, der nach wie vor besteht. Und wir haben auch abends im Team zusammengesessen und darüber gesprochen, wie man sich fühlt. Natürlich kommt es auch vor, dass man ein paar Tränen verliert und es ist wichtig, dass man diese Emotionen auch zulässt. Mir hilft es einfach sehr, darüber zu reden. Und Verständnis dafür zu wecken, warum wir das gemacht haben.
- Themen:
- Politik
- Rotes Kreuz