Brenner, Brennero, Oh Brenner!

Ein Szenario aus Uniformen, Schlagbäumen und einem unüberwindbaren Zaun. Was sich derzeit am Brenner abspielt, droht zum Fanal für ein Scheitern Europas zu werden. Ein Kommentar von Stephan Kabosch.
von  Stephan Kabosch
Der Brenner ist gleichsam auch das Brennglas - gerichtet auf ein gesamteuropäisches Jahrhundertprojekt. Stephan Kabosch über die angedrohte Schließung einer der wichtigsten Grenzen Europas.
Der Brenner ist gleichsam auch das Brennglas - gerichtet auf ein gesamteuropäisches Jahrhundertprojekt. Stephan Kabosch über die angedrohte Schließung einer der wichtigsten Grenzen Europas. © dpa/AZ

Es geht um viel mehr als unsere möglichst rasche und ungehinderte Fahrt von München an den Gardasee, mehr als um die wirtschaftlichen Interessen der Tourismus- und Transit-Lobby. Der Brenner ist gleichsam auch das Brennglas, mit dem sich auf ein viel größeres, auf ein gesamteuropäisches Jahrhundert-Projekt blicken lässt. Auch und vor allem darum geht es in diesen Tagen dort oben auf knapp 1.400 Metern über dem Meer.

Kaum eine Grenze innerhalb dieses Kontinents ist geschichts- und symbolträchtiger als dieser Ort. Wenn Österreich den Brenner faktisch wieder dichtmacht, dann bricht es „mit der Geschichte, der Logik und der Zukunft“, warnt Italiens Premier Matteo Renzi. Das klingt dramatisch - und ist es auch.

Vor fast 100 Jahren hat die europäische Ordnung von St. Germain die beiden Landesteile Tirols getrennt. Dazwischen liegen die kulturelle und sprachliche Unterdrückung einer Volksgruppe, ein mit Worten und auch mit Bomben geführter Kampf um Anerkennung und Selbstständigkeit, liegen Dynamit, Blut und Tränen, aber letztlich auch eine Verständigung, ein Selbstbestimmungsrecht, eine Autonomie, die zu einem Best-Practice-Beispiel wurde für Minderheiten in ganz Europa, liegen ein wirtschaftlicher Aufschwung, ein Zusammenwachsen einer grenzüberschreitenden Region - und schließlich die Demontage der Schlagbäume am Brenner. Das hat neben eher banalen Reise-Erleichterungen auch eine strahlende Symbolkraft – besonders für all jene, die in dieser Grenze ein historisches Unrecht sehen.

Ein Rückfall in nationale Egoismen

Nein, das in Jahrzehnten Erreichte ist jetzt nicht grundsätzlich in Gefahr, sollte Österreich tatsächlich eine Mauer am Brenner errichten. Dazu ist das alles viel zu sehr gefestigt. Aber schlimm genug: Diese Politik Wiens stellt einen Rückfall dar in nationalstaatliches Denken, in überwunden geglaubte Egoismen. Daher ist die Kritik an Österreich vollkommen berechtigt.

Aber man darf dabei auch nicht übersehen, dass es trotz aller Bekenntnisse und Appelle nach wie vor eben kein funktionierendes gesamteuropäisches Management der Flüchtlingskrise gibt. Zum wievielten Mal eigentlich hat die EU-Kommission am Dienstag beschlossen, das System zur Verteilung von Flüchtlingen in Europa deutlich zu verbessern? Wieso erlaubt Brüssel Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Dänemark, nicht aber zwischen Süd- und Nordtirol? Und weshalb gelingt es schon so lange nicht, einfach Ordnung in die Flüchtlingspolitik zu bringen, wie ein hoher EU-Diplomat beklagt?

Und so könnte ausgerechnet der Brenner zum Fanal werden für ein Versagen Europas.

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