Blutige Urnen

KABUL - Heute wird in Afghanistan gewählt: ein Land, in dem sich schon die Frage stellt, wie viele Bürger sich überhaupt ins Wahllokal trauen – und welche Zukunft der brüchige Staat am Hindukusch hat
Es ist weit mehr als eine Wahl: Der Urnengang in Afghanistan ist vor allem ein Test, wie stabil das Land acht Jahre nach dem Sturz der Taliban heute ist, wie weit es auf dem Weg einer Normalisierung ist – oder ob nicht gerade alles wieder schlimmer wird. Favorit ist Präsident Hamid Karsai, doch in dessen Image gibt es längst tiefe Kratzer (siehe unten). Mit umso mehr Spannung sehen die ausländischen Truppen, darunter auch die Deutschen, diese Wahl: Sie sagt auch etwas darüber, wie lange sie noch bleiben.
Der Tag vor der Wahl war gestern von Gewalt überschattet: Aufständische versuchten, eine Bank in Kabul zu stürmen. Die drei Angreifer wurden erschossen. Bei weiteren Anschlägen gab es mindestens drei Tote. Und Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid sagte, allein 20 Selbstmordattentäter seien in der Hauptstadt unterwegs zu ihren Zielen.
Finger abhacken als Strafe fürs Wählen
Hintergrund ist, dass die Taliban die Wahl boykottieren, und versuchen, möglichst viel Angst und Schrecken zu verbreiten, um die Bürger vom Urnengang abzuschrecken. Sie würden jedem den Finger abschneiden, der mit lila Tinte markiert ist: Die schlecht lösliche Farbe ist eine gängige Methode, zu kennzeichnen, wer schon gewählt hat, um Betrug zu vermeiden.
Das afghanische Außenministerium bat die Medien deswegen gestern, auf jegliche Berichterstattung über Gewalttaten zu verzichten, um die Wähler nicht noch mehr zu verunsichern. Das heißt, „gebeten“ wurden sie nur in der englischen Version der Mitteilung; in der Landessprache stand da „strikt verboten“.
"Die taugen alle nichts"
Auch mit der Logistik hapert es: Noch immer sind 20 Prozent der Wahllokale ohne Unterlagen, weil sie in unwegsamem Gelände liegen oder der Weg dahin zu unsicher ist. In manche Bezirke vor allem im Süden werden gleich gar keine ausgeliefert, weil da ohnehin die Taliban das Sagen haben. Noch 2003 tönten die Amerikaner: Die Taliban hätten drei Optionen: „Abhauen, sich ändern, getötet werden.“ Heute seien sie stärker als sogar 2001, räumt ISAF-Kommandeur Stanley McCrystal ein. Es gibt rund 10000 Vollzeit-Kämpfer soweit einige zehntausend Unterstützer.
In der Bevölkerung ist die Stimmung – anders als bei den ersten Wahlen 2004 – zurückhaltend bis frustriert. „Letztes Mal habe ich noch Wahlkampf für Karsai gemacht“, sagt Eidatullah Khan (25). „Dieses Mal gehe ich gar nicht wählen. Seine korrupte Regierung hat die Taliban erst stark gemacht. Und für wen soll ich sonst stimmen? Die taugen alle nichts.“ Der Aufbau der Infrastruktur nach 30 Jahren Krieg geht schleppend voran, die Analphabetenrate ist eine der höchsten der Welt.
Karsais Stern ist im Sinken
Karsai liegt laut Umfragen mit 44 Prozent vorn. Seine schärfsten Konkurrenten waren alle früher Minister in seinem Kabinett, geißeln heute seine Schwäche. Am aussichtsreichsten ist Ex-Außenminister Abdullah Abdullah von der Nord-Allianz mit 26 Prozent. Wichtig wird aber auch, wie viele Afghanen überhaupt an den Wahlen teilnehmen. Karsai hat versprochen, bei einem Sieg eine Loja Dschirga (Große Versammlung) mit gemäßigten Taliban abzuhalten. Bisher weigern sie sich, mit ihm zu reden.
Karsais Stern ist ohnehin am Sinken. Dabei galt Karsai lange Zeit als Hoffnungsträger Afghanistans. Er ist Mitglied des größten Volksstammes der Paschtunen und verwandt mit dem Königshaus. Dadurch genoss er hohes Ansehen im Land am Hindukusch. Er galt als möglicher Aussöhner der Volksstämme, bestach international durch sein elegantes und charmantes Auftreten.
Er verbündet sich mit Warlords
Doch im Land hatte er es schwer: Von US-Präsident Bush war er installiert worden und wurde anfangs als „Bürgermeister von Kabul“ verspottet, weil so wenige ausländische Truppen im Land waren, dass er außerhalb der Hauptstadt wenig zu sagen hatte. Also verbündete er sich mit vielen Kriegsherren, statt sie zu entmachten – auch jetzt wieder: Karsai konnte Mohammad Kasim Fahim von der oppositionellen Nordallianz auf seine Seite ziehen: Er soll bei einem Sieg Karsais Vizepräsident werden. Der Warlord gilt als Kriegsverbrecher, den die meisten Afghanen lieber in einem Gefängnis als in der Regierung sehen würden.
Andere Konkurrenten soll Karsai mit Bestechung aus dem Rennen gedrängt haben. Ihnen winken Geld oder einflussreiche Positionen in der neuen Regierung. Die konservativen Kräfte versucht er zu besänftigen, indem er etwa ein Gesetz erließ, das Frauen zum Sex mit Ehemann anhält.
Bruder mit großen Mengen Drogen erwischt
Von seinen Versprechen hat er einige gebrochen: Die Korruption wuchert erst recht, das Land wurde zum größten Opiumproduzenten. Selbst Karsais Bruder wurde mit großen Mengen Drogen erwischt. Dabei waren anfangs die Erwartungen auch im Westen an ihn groß. Er hatte lange in den USA gelebt und ist mit westlichen Werten durchaus vertraut. Aus dem Aufbau seiner Restaurantkette finanzierte er den Kampf gegen die Rote Armee mit. Nach dem Rückzug der Sowjets wurde er Vizeaußenminister Afghanistans. Kurz sympathisierte er mit den Taliban, ging aber bald auf Distanz.
Gute Chancen für die Wahl hat er dennoch: Die Stimmen der Paschtunen hat er sicher, sie sind die Mehrheit.