Interview

Biograf über Selenskyj: "Er ist der ideale Kriegspräsident"

Biograf Steven Derix beschreibt den Werdegang von Wolodymyr Selenskyj vom Komiker zum Krisen-Manager.
Natalie Kettinger
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Der Krieg hat ihn gezeichnet: Selenskyj im April bei einem Besuch in Butscha, wo russische Soldaten Hunderte Zivilisten ermordet haben.
Der Krieg hat ihn gezeichnet: Selenskyj im April bei einem Besuch in Butscha, wo russische Soldaten Hunderte Zivilisten ermordet haben. © Efrem Lukatsky/AP/dpa

AZ: Herr Derix, Sie haben als Korrespondent unter anderem in Kiew gearbeitet und den ukrainischen Präsidenten persönlich erlebt - was für ein Mensch ist Wolodymyr Selenskyj?
STEVEN DERIX: Er ist ehrgeizig, mutig, loyal gegenüber seinen Freunden, emotional und hat einen starken Charakter. Er will immer der Boss sein und verträgt keine Kritik. Das ist lustig, weil er immer andere kritisiert. Außerdem glaube ich, dass er sehr intelligent ist - und natürlich witzig.

Was er als ehemaliger Komiker wohl auch sein sollte. Wie populär war Selenskyj eigentlich in der Ukraine, bevor er 2019 als Präsidentschaftskandidat antrat?
Er war ein absoluter Superstar - und zwar auch in Russland. Man muss sich vorstellen: Er hat dort "The Voice" moderiert, die zu diesem Zeitpunkt größte Show im Fernsehen. Er war Schauspieler in Romantischen Komödien und mit seinem politischen Kabarett "Wetschernyj Kwartal" in der Ukraine sehr einflussreich, vielleicht ein bisschen wie Jan Böhmermann in Deutschland. Wobei: Selenskyjs Witze waren nicht so progressiv, sie richteten sich an ein breites Publikum. Alle haben ihn geliebt: die Intellektuellen, aber auch die ganz normalen Leute.

Drei Jahre vorher: Selenskyj am 20. Mai 2019, dem Tag seiner Amtseinführung, auf dem Weg ins Parlament.
Drei Jahre vorher: Selenskyj am 20. Mai 2019, dem Tag seiner Amtseinführung, auf dem Weg ins Parlament. © imago images / ZUMA Press

Am 24. August dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine genau ein halbes Jahr. Wie hat sich Selenskyj in dieser Zeit verändert?
Es hat schon in den beiden Jahren seiner Präsidentschaft vor dem Krieg eine Verwandlung stattgefunden. Er ist viel seriöser und zielstrebiger geworden - und fast eine Art Alleinherrscher: Er will sich durchsetzen und dabei sind die Ziele ein bisschen wichtiger als die Mittel. Jetzt im Krieg kann er natürlich seine Talente zeigen, sein Charisma.

Sie spielen auf die Videoansprachen an, die er vor Parlamenten und Organisationen auf der ganzen Welt hält. Glauben Sie, die Unterstützung für die Ukraine wäre ohne diese durchaus eloquenten Auftritte ebenso groß?
Nein. Diese Ansprachen spielen eine unglaublich wichtige Rolle. Vor Kurzem hat Selenskyj zum Beispiel gefordert, dass man russischen Touristen keine Visa mehr ausstellen sollte. Mittlerweile sagen die ersten Länder in der Europäischen Union, dass sie das nicht weiter tun wollen. Selenskyj ist der ideale Kriegspräsident, weil er versteht, welche Rolle er jetzt spielen muss. Ob er auch ein guter Friedenspräsident ist, ist eine ganz andere Frage.

"Ich glaube, keiner hat erwartet, dass er nicht flieht"

Hatten Sie bei Kriegsbeginn das Gefühl, dass Selenskyj der richtige Mann an der richtigen Stelle ist?
Wissen Sie, ich war am Wahlabend auf seiner Wahlparty und habe mich schon gefragt: Was will dieser Schauspieler, der keinerlei politische Erfahrung hat? Innenpolitisch war er in den zwei Jahren vor dem Krieg nicht besonders erfolgreich. Aber die russische Invasion hat alles verändert. Wir haben erst später erfahren, dass es in den ersten Tagen des Angriffs für ihn sehr, sehr gefährlich war. Russische Spezialstreitkräfte waren ins Zentrum von Kiew vorgerückt, bis hinein ins Regierungsviertel. Selenskyjs Leben war bedroht. In diesem Moment hat er beschlossen, nicht zu fliehen. Ich glaube, das hat keiner so erwartet. Doch in 20 Jahren werden wir das als einen Schlüsselmoment in der ukrainischen Geschichte betrachten. Es ging um das Fortbestehen der Nation - und er hat verstanden: Wenn ich jetzt gehe, ist vielleicht alles verloren. Ich muss hierbleiben und mich den Leuten auch zeigen. Er hat seine Führungsrolle angenommen und die richtige Entscheidung getroffen.

Steven Derix: Der Journalist der niederländischen Zeitung "nrc Handelsblad" war von 2014 bis 2020 Korrespondent für Russland, die Ukraine und Belarus. Gerade hat er gemeinsam mit einer Kollegin eine Selenskyj- Biografie veröffentlicht.
Steven Derix: Der Journalist der niederländischen Zeitung "nrc Handelsblad" war von 2014 bis 2020 Korrespondent für Russland, die Ukraine und Belarus. Gerade hat er gemeinsam mit einer Kollegin eine Selenskyj- Biografie veröffentlicht. © Peter Arno Broer

Hat der russische Präsident Wladimir Putin diesen Gegner unterschätzt?
Total - und nicht nur Putin, auch der FSB. Der Geheimdienst hat berichtet, die ukrainische Gesellschaft sei gespalten und die Ukrainer würden nicht kämpfen. Das Merkwürdige ist allerdings, dass Putin doch irgendwie gefühlt zu haben scheint, dass er es mit einer starken Persönlichkeit zu tun hat. Wenn er sich vor einem Gegner fürchtet, nennt er diesen niemals beim Namen - zum Beispiel Alexej Nawalny. Putin spricht immer von "diesem Blogger", "dieser Person" oder jetzt von "diesem Häftling". Mit Selenskyj ist es genau so. Putin hat instinktiv gefühlt, dass er es mit einem wirklichen Gegner zu tun hat. Auch, wenn sie sich nur ein einziges Mal persönlich getroffen haben, 2014 bei den Verhandlungen über den Vertrag von Minsk in Paris.

"Mit einem Russland unter Putin ist Frieden nicht möglich"

Trotzdem hat er den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gegeben.
Er hat nicht nur Selenskyj unterschätzt, sondern auch das ukrainische Volk und seine Bereitschaft, Widerstand zu leisten. Die Ukrainer sind angenehme, fröhliche Leute - aber auch sehr heißblütig, wenn sie wütend werden. Die unterwerfen sich nicht so einfach.

Glauben Sie, der russische Angriffskrieg hätte auch stattgefunden, wenn 2019 nicht der unkonventionelle Außenseiter Selenskyj Präsident geworden wäre, sondern Petro Poroschenko oder Julija Tymoschenko, die beide schon lange zum politischen Establishment der Ukraine gehörten?
Letztendlich ja. Selenskyj war eigentlich immer bereit, große Zugeständnisse an Russland zu machen, um Frieden zu schließen. Das war ein zentraler Punkt in seinem Wahlprogramm: Er wollte den eingefrorenen Krieg im Donbass beenden. Aber mit einem Russland unter Putin ist Frieden nicht möglich. Er ist auf das Ende der Ukraine aus und kann sie nicht als unabhängiges Land, das seine eigene Zukunft bestimmt, akzeptieren. Putin hat schon 2014 mit der Besetzung der Krim den Weg des Krieges gewählt, der auch für ihn selbst ein ungeheures Risiko birgt.

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Sie haben gesagt, Selenskyj sei innenpolitisch nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Können Sie das erklären?
Er hat nicht sehr viel erreicht und ist in eine ungeheure Krise geraten. Das hat mit dem Verfassungsgericht angefangen, das genauso korrumpiert ist wie alles in der Ukraine und Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption zurückgedreht hat - zum Beispiel, indem es das Beamten-Register für verfassungswidrig erklärt hat.

Was hat es mit diesem Register auf sich?
Jeder Beamte in der Ukraine musste angeben, was er besitzt: Wohnungen, Autos, Geld. Hat jemand ein Jahresgehalt von 20.000 Euro, fährt aber ein Auto für 100.000 Euro, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass Bestechung im Spiel ist. Aber Selenskyj hatte nicht nur Probleme mit dem Verfassungsgericht, sondern auch mit der Rada.

Steven Derix und Marina Shelkunova: "Selenskyj. Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten", Edel Books, 18,95 Euro
Steven Derix und Marina Shelkunova: "Selenskyj. Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten", Edel Books, 18,95 Euro © Edel

Inwiefern?
Seine Partei "Diener des Volkes" hat zwar die Mehrheit im Parlament, aber es haben nicht alle Abgeordneten für seine Gesetze gestimmt. Innerhalb von sechs Monaten hat die Hälfte von ihnen die Seiten gewechselt und die Interessen der Oligarchen vertreten. Um aus dieser schwierigen Lage herauszukommen, hat er in meinen Augen einen falschen Weg gewählt: Er hat begonnen, mit Hilfe des Sicherheitsrates direkt zu regieren - am Parlament vorbei, unter Missachtung des Gerichts - und damit die Demokratie in der Ukraine geschwächt. Ich glaube, er wollte das Land wirklich verändern, die Korruption bekämpfen, das Gute tun - aber er versteht nicht, dass es so nicht geht.

"Es kann natürlich sein, dass er schlicht keine Steuern zahlen wollte"

Im Zuge der Pandora-Papers-Enthüllungen geriet er auch selbst unter Druck. Was genau wurde ihm vorgeworfen?
Er hat mindestens 40 Millionen Dollar auf Offshore-Konten auf Zypern und den Jungfern-Inseln versteckt. Warum, wissen wir nicht. Er hat behauptet, er habe das Geld vor dem früheren Präsidenten Viktor Janukowytsch in Sicherheit bringen wollen. Ich glaube, das haben in dieser Zeit alle gemacht. Insofern ist es möglich. Aber es kann natürlich auch sein, dass er schlicht keine Steuern zahlen wollte.

Die Ukraine ist seit Kurzem EU-Beitrittskandidat. Wann ist das Land bereit für die Mitgliedschaft in der Union?
Es ist wirklich noch ein sehr, sehr weiter Weg. Die Verleihung des Beitrittskandidatenstatus war ein symbolischer Schritt, der für die Ukraine und das größere politische Spiel in der Region wichtig ist. Er zeigt: Die Ukraine gehört zu uns. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Ukraine in den nächsten fünf oder zehn Jahren Mitglied der Union werden kann. Die Probleme dort sind so groß, dass es bestimmt 20 Jahre dauern wird. Hinzu kommt: Wir haben in der EU jetzt schon Schwierigkeiten mit Ländern wie Polen oder Ungarn, die zu schnell Mitglieder geworden sind. Dort gibt es ja weiterhin Probleme bei der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, der Korruption. Ich glaube nicht, dass die EU noch einmal bereit ist, vor dieser Thematik die Augen zu verschließen.

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3 Kommentare
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  • Max Merkel am 21.08.2022 07:22 Uhr / Bewertung:

    Hätte der Westen der Ukraine von Anfang an "KEINE" Waffen geliefert würde es den Krieg schon längst nicht mehr geben!!!

  • Dr. Right am 21.08.2022 17:50 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Max Merkel

    Waffenlieferungen dienen deutschen und europäischen Interessen. Putin hat Südossetien "heim ins russische Reich" geholt. Das hat ihm nicht genügt, deshalb hat er auch die Krim "heim ins russische Reich" geholt. Das hat ihm nicht gereicht. Er will jetzt die Ukraine, um seinen Traum von einer Sowjetunion bzw. einem eurasischen Reich zu verwirklichen. Hätte er erstmal die Ukraine, hätte er eine maßgebliche Herrschaft über die Ressource Weizen. Er könnte darüber den Hunger in Afrika und damit die Flüchtlingsströme steuern. Das würde er zweifellos als Machtinstrument nutzen. Damit sind - denkt man weitsichtig - deutsche und europäische Interessen durch den Ukrainekonflikt gefährdet. Mit Waffenlieferungen an die Ukraine kann der Preis für Putin in die Höhe getrieben und auch die vermeintliche russische Übermacht geschlagen werden, so wie einst in Vietnam der Vietcong die Supermacht USA bezwang.

  • Der wahre tscharlie am 20.08.2022 15:30 Uhr / Bewertung:

    Gutes Interview. Vom Komiker/Schauspieler zum Präsidenten.
    Natürlich kann man einige Punkte an Selenskji kritisieren, aber Menschen sind nun mal nicht perfekt.
    Und das ihn Putin total unterschätzt hat, zeigten schon seine täglichen Videoansprachen nachts von der Strasse.
    Und was ihm hoch angerechnet werden muß, er bleibt bei seinem Volk. Er verteidigt die Eigenständigkeit seines Landes.

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