„Bei manchen Themen ist klar, dass wir uns streiten“

AZ: Frau Stamm, am Sonntag nehmen Sie an der AZ-Diskussion über Solidarität in Europa teil. Hat sich Deutschland nicht auch über diese Solidarität hinweggesetzt, indem es die Stabilitätskriterien von Maastricht zusammen mit Frankreich gebrochen und lange Zeit die Flüchtlingsprobleme in Italien ignoriert hat?
Claudia Stamm: Das ist der Punkt: Wie solidarisch war Europa bisher? Europa besteht bislang vor allem im Binnenraum. Dahinter steht zwar schon eine Werte-Idee, aber das reduzierte sich auf das Einzahlen in einen gemeinsamen Haushaltstopf. Es war ja kein bisschen solidarisch, dass alle Geflüchteten vor 2015 in Italien, Griechenland, Spanien und Malta landeten und die anderen damit nichts zu tun haben wollten. Europa ist eine tolle Idee, wahnsinnig wertvoll – allein für den Frieden. Wir müssen diese Idee auf ein solides Fundament stellen.
Erleben wir nicht eher eine Renationalisierung?
Ich hoffe nicht. Momentan erleben wir diese Tendenzen, auch durch das Auftreten neuer Parteien. Das Wichtigste an Europa besteht nicht darin, dass wir keine Pässe mehr brauchen und kein Geld mehr tauschen müssen. Das ist ein netter Zusatzeffekt, aber der eigentliche Wert Europas besteht in der Abwesenheit von Krieg. Wobei sich bei näherem Hinsehen die Frage stellt: Hat Europa Krieg nur verlagert, externalisiert?
Die Grünen feiern dieser Tage 30 Jahre Präsenz im bayerischen Landtag. Sind sie eine ganz normale etablierte Partei geworden?
Es ist ein Erfolg, wenn unsere Themen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wir müssen aber stets unsere Positionen hinterfragen. Und da ist die Basis sehr wichtig, außerdem viel Kontakt nach draußen. Wir müssen unser Profil wieder schärfen.
Was bedeutet Pofilschärfung? Zurück auf die urgrünen Themen Umwelt, Klima, Natur?
Die Themensetzung machen wir richtig. Für mich gehört aber soziale Gerechtigkeit immer unabdingbar mit Ökologie zusammen gedacht. Ich meine, insgesamt könnten wir ruhig etwas frecher und mutiger sein. Es gab Tendenzen, sich in Positionen abzuschleifen, um koalitionsfähig zu sein.
Lesen Sie hier: SPD fordert Vordach-Abriss und Alkoholverbot am Hauptbahnhof
Haben Sie deshalb für Gedankenspiele über Schwarz-Grün nicht viel übrig? Sie haben ja erst kürzlich auf der Landesversammlung davor gewarnt.
An Schwarz-Grün in Bayern glaubt zurzeit wohl niemand. Und ich habe angemahnt, die Dinge zu Ende zu denken: Wenn es Schwarz-Grün im Bund gibt, sind wir auch automatisch mit der CSU in einer Koalition. Viele führende Politiker der CSU haben mit ihrer Sprache den guten Ton verlassen. Sie polarisieren in der Flüchtlingsfrage so sehr, dass es heftige Kritik von den Kirchen gibt. Momentan versucht die CSU, mit ihrer Sprache bei der AfD Stimmen zu fangen. Und das geht einfach nicht!
Wie ist das denn in der Familie Stamm: Diskutieren Sie über Politik und wenn ja, streiten Sie sich, oder sind Sie sich im Grunde einiger als man denkt?
Wir reden immer weniger über Politik, weil wir beide viele Termine haben und sehr wenig Zeit miteinander. Und wenn wir es tun, gibt es Themen, bei denen klar ist, dass man sich streitet. Wenn ich ein bestimmtes Stichwort fallen lasse, dann ist das wie ein Knopfdruck.
Was wäre ein solches Stichwort?
Abschaffung des Ehegattensplittings. Bei meinem Vater, der auch in der CSU ist, ist es die Atomkraft. Er glaubt immer noch daran. Wir versuchen also, diese Themen auszuklammern. Wenn wir uns streiten, sind es eher die Details der Politik.