Interview

Bahman Nirumand im Interview: "...wie Afghanistan unter den Taliban"

Bahman Nirumand über die Proteste im Iran, das Ende des Regimes und den Wunsch, den Obersten Führer auf die EU-Terrorliste zu setzen.
Natalie Kettinger
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Eine Frau mit offenem Haar unterwegs zum Friedhof, auf dem Masha Amini beerdigt ist. "Das Kopftuch ist Symbol der Unterdrückung generell", sagt Autor Nirumand.
Eine Frau mit offenem Haar unterwegs zum Friedhof, auf dem Masha Amini beerdigt ist. "Das Kopftuch ist Symbol der Unterdrückung generell", sagt Autor Nirumand. © AFP

AZ-Interview mit Bahman Nirumand: Der 1936 in Teheran geborene Germanist, Iranist und Autor hat unter anderem in München studiert und wurde von Hans Magnus Enzensberger zum Schreiben ermutigt. Mit seinem 1967 erschienenen Buch "Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der freien Welt" beeinflusste er die deutsche Studentenbewegung. 1982 emigrierte er aus dem Iran, um einer Verhaftung zu entgehen, und ließ sich in Deutschland nieder.

AZ: Herr Nirumand, in Ihrem Buch schreiben Sie über den Iran "Die Tage des Gottesstaates sind gezählt". Aber die Proteste scheinen abzuebben, während das Regime immer mehr Demonstranten hinrichten lässt. Wie passt das zusammen?
BAHMAN NIRUMAND: Das Regime versucht die Proteste mit Gewalt zu ersticken und war damit in der Tat schon ein Stück weit erfolgreich. Aber selbst, wenn für ein paar Monate Ruhe herrschen sollte, wird es wieder losgehen. Die Mehrheit des Volkes will dieses Regime nicht mehr - und die Herrschenden sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse des Volkes einzugehen. Das Einzige, was das Regime im Sinn hat, ist Machterhalt und die Sicherung eigener Vorteile. Eine solche Situation kann nicht ewig andauern. Deswegen ist das Regime eigentlich am Ende, nur Gewalt hält es noch aufrecht.

Kann man die steigende Zahl der Exekutionen also so deuten, dass die Herrschenden als eine Art letztes Mittel auf brutalstmögliche Abschreckung setzen?
Ja, so ist es, und wenn ein Regime mit purer Gewalt versucht, das Volk zu unterdrücken und ruhig zu halten, dann sind die Tage dieses Regimes gezählt. Hinzukommt: Es gibt spürbare Zeichen dafür, dass es innerhalb des Regimes Spaltungen gibt. Die religiösen Instanzen in den heiligen Städten Ghom und Mashhad schweigen. Bisher haben sie immer zugunsten des Regimes gesprochen und die Proteste verurteilt - aber das tun sie nicht mehr.

Es gibt Berichte, die Sittenpolizei sei von der Regierung zurückgepfiffen worden und die Kleidungsvorschriften würden nicht mehr so restriktiv ausgelegt. Ist das korrekt - oder Wunschdenken des Westens?
Das ist Wunschdenken des Westens! Es kann sein, dass die Kontrollen vorübergehend etwas gelockert werden und die Sittenpolizei vielleicht einen anderen Namen bekommt - aber die Unterdrückung wird weitergehen. Das Regime kann auf das Kopftuch nicht verzichten.

"Das sind Geiselnahmen, weil das Regime an den Westen Forderungen stellen will"

Warum nicht?
Es ist ein Symbol für die Ehre des islamischen Gottesstaates, dafür, dass alles nach islamischem Recht und Gesetz verläuft. Aufseiten der Protestierenden ist das Kopftuch ebenfalls ein Symbol: für Unterdrückung und Diskriminierung, nicht nur von Frauen und Minderheiten, sondern generell.

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass ein deutscher Staatsbürger im Iran unter Spionageverdacht festgenommen wurde. Ein Belgier wurde aus demselben Grund zu fast 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Sehen Sie einen Zusammenhang mit den Protesten?
Nein. Das sind Geiselnahmen, weil das Regime an den Westen Forderungen stellen will. So läuft es schon seit Jahren.

Im Iran hat es schon früher Massenproteste gegeben, 2009 nach der Präsidentschaftswahl und zuletzt 2019 wegen der gestiegenen Benzinpreise. Sie wurden vergleichsweise schnell niedergeschlagen. Die aktuellen Unruhen dauern schon seit Mitte September an - was ist diesmal anders?
2009 haben die Proteste auch monatelang gedauert. Aber diesmal geht es um alles. Das ist das Neue. Es geht um das Leben schlechthin, um ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Dasein. Die Proteste vorher waren mit konkreten Forderungen wirtschaftlicher oder politischer Art verbunden, mal haben Lehrer gestreikt, mal Pensionäre. Jetzt geht es ums Ganze. Deswegen sind die Protestierenden zu keinen Kompromissen mehr bereit. Sie fordern den Sturz des Regimes.

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Woher kommt diese Kompromisslosigkeit?
In der Vergangenheit haben die Menschen ihre Hoffnungen an bestimmte Bewegungen geknüpft, etwa an die Reformer um Mohammad Chatami (Staatspräsident von 1997 bis 2005, d. Red.). Alles ist gescheitert. Nicht nur, weil es mächtige Gegenspieler gab, sondern weil sich das gesamte System als unreformierbar erwiesen hat. Die Kompromisslosigkeit der Bewegung heute ist ein Resultat dieser Entwicklung.

Frauen und Mädchen führen die Proteste an. Welche Rolle spielen sie?
Eine große! Die Frauen haben in den 43 Jahren seit Bestehen des Regimes einen unglaublich mutigen Kampf geführt. Gleich zu Beginn, als Ruhollah Chomeini (religiöser Führer der Islamischen Revolution von 1979 und bis zu seinem Tod 1989 Staatsoberhaupt, d. Red.) das Kopftuch und islamische Kleidung angeordnet hat, gingen Zehntausende Frauen auf die Straßen. Diese Frauen haben ihren Kampf auf verschiedenen Ebenen immer weiter fortgesetzt. Ohne ihn hätten wir im Iran eine Situation wie unter den Taliban in Afghanistan. Aber die Zivilgesellschaft, die von Frauen angeführt wurde, hat erreicht, dass die Islamisten ihr Ziel nicht umsetzen konnten. Insofern ist es nicht aus heiterem Himmel gekommen, dass Frauen und Jugendliche heute auf die Straße gehen. Sie tun es, weil sie die iranische Zivilgesellschaft als Basis haben. Und diese Zivilgesellschaft ist so weit entwickelt, dass Iran heute für eine Demokratie geeignet ist. Das ist wichtig zu wissen.

"Der Westen sollte sich solidarisch hinter die Bewegung stellen, sich aber nicht einmischen"

Masha Amini, die 22-Jährige, die nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei starb, war Kurdin. Die Proteste gegen das Regime begannen in den kurdischen Regionen und wurden dort besonders hart geführt. Droht hier zusätzlich ein ethnischer Konflikt?
Ethnische Konflikte hat es im Vielvölkerstaat Iran schon immer gegeben, auch unter dem Schah. Dort leben Kurden, Balutschen, Azeris, Araber und einige mehr. Vor allem bei den Kurden hat der Kampf um Autonomie eine lange Tradition. Es gibt eine Minderheit, die für einen selbstständigen Staat kämpft, und andere, die innerhalb des Irans autonom sein wollen. Das ist jetzt auch eins der Themen der Bewegung: Die Rechte der ethnischen, aber auch von religiösen Minderheiten wie den Bahais, die im Iran auf verbrecherische Weise verfolgt werden, sind Teil der Demokratie-Forderung.

Bahman Nirumands neues Buch "Der mühsame Weg in die Freiheit. Iran zwischen Gottesstaat und Republik" ist im Verlag zu Klampen! erschienen und kostet 16 Euro.
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Demokratie, Religionsfreiheit, Frauenrechte: Wie viele Menschen im Iran stehen denn wirklich hinter diesen modernen Werten?
Das ist die große Frage. Weite Teile des Landes sind rückständig. Noch immer gehen Tausende jeden Tag zu einem Brunnen im Dorf Jamarkan und werfen Geld hinein, damit ihnen Mahdi, der zwölfte Nachfolger des Propheten Mohammed, ihre Wünsche erfüllt. Manche glauben sogar, er würde im Brunnen leben. Es ist unfassbar, aber der Aberglaube ist noch ziemlich stark. Eigentlich gibt es im Iran zwei Gesellschaften: die Zivilgesellschaft und einen wenig gebildeten, rückständigen Teil der Bevölkerung, der oft noch hinter dem Regime steht.

Sie schreiben, in der Vergangenheit hätten internationale Solidaritätsbekundungen zu einer Steigerung der Repression im Inland geführt - etwa, als die USA ankündigten, die Zivilgesellschaft finanziell zu unterstützen und Regimekritiker als angebliche Auslands-Kollaborateure verhaftet wurden. Wie sollte der Westen Ihrer Meinung nach auf die aktuellen Vorgänge reagieren?
Der Westen sollte sich solidarisch hinter die Bewegung stellen, sich aber nicht einmischen.

Wie meinen Sie das?
Bisher hat sich der Westen immer in die Angelegenheiten Irans eingemischt. Angefangen bei Mohammad Mossadegh (demokratisch gewählter Premierminister, d. Red.), der 1953 durch einen CIA-Putsch gestürzt wurde. Während der 25 Jahre des Schah-Regimes waren Amerikaner, Briten und andere im Iran tätig. Und auch jetzt streben sie nach Einfluss. Aber der Versuch, die Bewegung in Richtung ihrer eigenen Interessen zu lenken, wäre ein Fehler - egal, ob es über Propaganda, materielle Zugeständnisse oder Personen geschieht. Das schadet dem Aufstand, es schadet der Demokratie im Iran und hilft nur dem Regime.

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"Ich bin dafür, dass man die Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzt"

Die EU erwägt, die Revolutionsgarden auf ihre Terrorliste zu setzen. Außerdem gibt es Forderungen, iranische Diplomaten aus Europa ausweisen. Was halten Sie davon?
Ich bin dafür, dass man die Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzt - und auch Ali Chamenei (seit 1989 Oberster Führer des Iran, d. Red.). Er ist doch der oberste Terrorist! Mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen hingegen bin ich nicht so ganz einverstanden. Ich denke, es ist besser, sie aufrechtzuerhalten, um Druck ausüben zu können - und vor allem, um Iran nicht noch mehr in den Schoß Russlands und Chinas zu treiben.

Demnach sind Sie auch dafür, die Verhandlungen über das Atomabkommen weiterzuführen, und nicht der Ansicht, dass sie aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen abgebrochen werden müssten, was ja viele verlangen. Richtig?
Ja, man muss im Gespräch bleiben. Wenn die Verhandlungen beendet werden, Iran sein Atomprogramm fortsetzt, eine hohe Urananreicherung erlangt und vielleicht anfängt, die Bombe zu bauen, gibt es Krieg. Israel und die Amerikaner werden es nicht dulden, dass Iran in den Besitz von Atomwaffen gelangt. Dann gibt es keinen anderen Ausweg mehr - und das wäre schrecklich.

Was müsste geschehen, damit das Regime der Mullahs tatsächlich stürzt und es hoffentlich nicht so weit kommt?
Die Menschen im Iran sind gebrannte Kinder. Die Revolution 1979 hat sie vom Regen in die Traufe geführt. Deswegen muss die Bewegung eine Alternative vorweisen, die für die Bevölkerung glaubwürdig ist. Sie braucht ein Programm, konkrete Forderungen, eine Organisation und eine Strategie. Aber das alles fehlt noch.

Beispiele aus der Geschichte zeigen: Stellt sich das Militär auf die Seite der Aufbegehrenden, ist das in der Regel das Ende der Herrschenden. Wie ist die Situation im Iran?
Wenn es soweit ist, dass man von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt wird, werden auch viele Militärs Ängste bekommen und die Seiten wechseln. Das wäre natürlich das Ende des Regimes. Aber vorher muss man die Werktätigen, die Angestellten, die Lehrer, die gesamte Mittelschicht für sich mobilisieren können - erst dann geschieht das. Doch vom Sympathisieren mit einer Bewegung bis zu ihrer aktiven Unterstützung ist es ein weiter, gefährlicher Weg, der nur beschritten wird, wenn die Menschen an eine bessere Zukunft glauben.


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  • Der wahre tscharlie am 21.01.2023 15:44 Uhr / Bewertung:

    Ein sehr informatives Interview, das einen tieferen Einblick in die dortige Politikerkaste und insbesonders in die dort lebenden Menschen gibt.

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