Augenzeugenbericht aus Syrien: Rakka in Schutt und Asche - der lautlose Krieg

Diala Ghassan arbeitet für Ärzte ohne Grenzen im Norden Syriens. Hier erzählt Sie Ihre Geschichte von Leid und Tod in einem Land, das seit mehr als sechs Jahren von blutiger Gewalt heimgesucht wird.
Im Norden Syriens wird man von Schildern begrüßt, auf denen steht "Ich werde nicht fortgehen". Entlang der Straßen stehen Weizenfelder und Olivenbäume. Zunächst realisiert man gar nicht, dass man in einem Kriegsgebiet ist – jedenfalls nicht, bis man am Straßenrand Plakate von denen erblickt, die in den Kämpfen gestorben sind. Und dann kann man die Zeichen nicht mehr übersehen. Wir fahren an einer gewaltigen Mauer vorbei, die erst kürzlich errichtet wurde, um die Türkei von Nordsyrien zu trennen. An anderen Mauern sieht man Spuren von Bombeneinschlägen, überall stehen zerstörte Häuser. Einige Städte und Dörfer wurden fast vollständig zerstört.
Ich bin auf dem Weg in das Krankenhaus in Tal Abjad in der Provinz Rakka, unmittelbar südlich der türkischen Grenze. Bomben haben die Klinik beschädigt, monatelang war sie kaum funktionsfähig. Ein Großteil der medizinischen Ausrüstung wurde entweder zerstört oder gestohlen. Inzwischen konnte die Arbeit wieder aufgenommen werden. Seit einigen Monaten unterstützt Ärzte ohne Grenzen die Geburtsstation und die Chirurgie des Krankenhauses. Die Menschen kommen nun wieder aus den umliegenden Städten und Dörfern.
Viele Geflüchtete mussten ihr geliebten Tiere zurücklassen.
Die Straßen sind voll von Trümmern. Überall hört man das Echo vom Gebell der Straßenhunde. Viele Geflüchtete mussten ihre geliebten Tiere zurücklassen. Syrer erzählen mir, dass die Hunde mittlerweile sehr gefährlich geworden sind. Sie wurden ohne Futter ihrem Schicksal überlassen und als die Straßen sich mit Leichen füllten, fingen die Hunde an, die Körper zu fressen. "Jetzt sind sie unkontrollierbar und gefährlich", erzählt ein Mann. "Aber wir können sie nicht töten. Wir haben schon zu viele Tote in diesem Land."
Ich gehe durch das Krankenhaus. Ein kleiner Bub liegt in einem Bett. Eines seiner Augen ist mit einem Verband bedeckt, sein T-Shirt ist blutgetränkt. Neben ihm stehen zwei Männer und ein Arzt. Ich frage, was dem Kleinen passiert ist. Der Vater erzählt unter Tränen: "Er spielte mit einer Batterie, die er gefunden hatte. Doch leider war dies keine Batterie, sondern ein Sprengkörper, der explodierte." Der Bub ist acht Jahre alt. Er hat ein Auge verloren, eine Verletzung am Unterleib und am ganzen Oberkörper Wunden von Granatsplittern. Das Kind schreit vor Schmerzen.

Ein kleiner Bub wird im Krankenhaus in Tal Abjad behandelt. Foto: Fabrice Caterini/Ärzte ohne Grenzen
In manchen Teilen Syriens kann man den Krieg sehen und hören. Anderswo ist er lautlos. Doch auch dort, wo man die die Geräusche der Kämpfe nicht hört, sind die Menschen großem Leid ausgesetzt.
Der Bub benötigt eine Augenoperation. Doch falls seine Familie diese nicht bezahlen kann, wird er den Rest seines Lebens mit den Folgen der Verletzung leben müssen. Der Krieg ist ungerecht zu ihm und zu seiner ganzen Generation.
Ich laufe weiter durch das Krankenhaus, treffe auf einen Mitarbeiter. Er floh selbst vor einem Jahr aus seiner Heimatstadt Rakka. Früher habe es 66 Chirurgen in der Provinzhauptstadt gegeben, erzählt er. Heute seien es nur noch drei. "Wir haben täglich Verletzte durch Sprengkörpern, Minen oder Sprengfallen."
"Er wollte jemandem das Leben retten und verlor sein eigenes"
Ich gelange auf die Station für Erwachsene. Die meisten Patienten schlafen, aber ganz hinten sehe ich einen jungen Mann, der wach ist. Ich bemerke, dass ihm ein Bein amputiert wurde. Zögernd gehe ich auf ihn zu und frage ihn, was ihm passiert ist. "Ich bin über eine Mine gefahren, als ich mit einem Freund auf einem Motorrad unterwegs war", erzählt der junge Mann. Er ist 21 Jahre alt.
"Mein Freund starb, und ich wurde verletzt. Mein Freund war bei mir zuhause vorbeigekommen, um mir zu erzählen, dass ein Haus bei einem Luftangriff zerbombt worden war. Dabei seien 14 Familienmitglieder getötet worden. Wir wollten zu dem Haus, um zu sehen, ob wir jemanden retten können. Wir sprangen aufs Motorrad und fuhren los. "Dann explodierte die Mine unter uns." Für einige Sekunden sagt er nichts. Dann fährt er fort: "Er wollte jemandem das Leben retten und verlor sein eigenes."
Ich kann es nicht ertragen, noch eine Geschichte über den Krieg und die daraus resultierenden Tragödien zu sehen oder zu hören. Ich verlasse das Krankenhaus, werfe einen letzten Blick zurück. Es ist bloß ein ganz normaler Tag in Nordsyrien. Ich bin nicht in der Lage mir vorzustellen, wie es sein muss, die letzten gut sechs Jahre in diesem Krieg gelebt zu haben.