Attentäter von Norwegen - "Er schrie und jubelte"
Mit Kopfschüssen hingerichtet: Nach den Bombenanschlägen in Oslo, richtet der Attentäter ein Massaker an. Eine deutsche Familie rettet panische Jungen und Mädchen aus dem Wasser.
OSLO - An die 90 Minuten dauerte der Massenmord. Eineinhalb Stunden rannte Anders Behrendt Breivik mit einer Handwaffe und einer automatischen Waffe über die kleine Insel Utøya und schoss wild um sich. In seinem inzwischen gelöschten Facebook-Profil gab er als Hobby das Jagen an – und bei seinem perfiden zweiten Terroranschlag an diesem 22. Juli 2011 machte er Jagd auf die Jugendlichen. Insgesamt 86 Menschen richtet er kaltblütig hin. Noch immer werden vier oder fünf Camp-Teilnehmer vermisst.
Doch warum dauerte es so lange, bis die Polizei die rund 40 Kilometer von Oslo entfernte Insel erreichte? Mehr als eine Stunde nach der Bombenexplosion in der Hauptstadt hörten Camping-Urlauber nahe der Insel Utøya Schüsse. Doch laut Polizeichef Sveinung Sponheim setzte sich erst 50 Minuten nach den ersten Schüssen ein Einsatzkommando in Oslo in Bewegung. Die Beamten machen sich mit Autos auf den Weg nach Utøya, ein Hubschrauber ist zu diesem Zeitpunkt nicht einsatzbereit. 20 Minuten habe die Fahrt gedauert, sagt Sponheim. Doch dann die nächste Verzögerung: Es dauert weitere wertvolle Minuten, bis ein Boot zur Verfügung steht. „Es gab Probleme mit dem Transport nach Utøya. Es war schwierig an ein Boot heranzukommen.” Die näheren Umstände müssen nun untersucht werden.
Bilderstrecke: Das Entsetzen, das Leid, die Trauer
War es das Ziel des Täters, mit seinem Bombenanschlag in Oslo Polizei und Einsatzkräfte abzulenken, um dann seine noch dramatischere und blutigere Tat auf der Ferieninsel umzusetzen? Breivik setzt sich in einen silbernen Lieferwagen, während in der Hauptstadt das Chaos herrscht.
Die Insel Utøya ist 600 Meter vom Festland entfernt nur etwa 400 Meter breit, ein Fährmann setzt den als Polizisten verkleideten Attentäter dort ab, wo knapp 600 Jugendliche im sozialdemokratischen, multikulturellen Ferienlager eigentlich diskutieren und Spaß haben sollten. Breivik geht auf die Jugendlichen zu, die gerade von dem Anschlag in Oslo erfahren haben. Er ruft die jungen Menschen zusammen, die dem falschen Polizisten vertrauen. Doch dann zieht er seine Waffen und schießt los. Der Horror beginnt.
Der Mann hat Zeit und viel Munition. Der 16-jährige Edvard erinnert sich: „Dieser Typ war ganz ruhig. Er hat immer wieder geschossen, und als wir wegliefen, hat er ganz ruhig gerufen ’Kommt zurück, lasst mich spielen’”.
Die Jugendlichen versuchen sich in Sicherheit zu bringen, viele legen sich auf den Boden und stellen sich tot. Doch die Grausamkeit des Attentäters nimmt kein Ende. Mit mehreren gezielten Kopfschüssen soll er die am Boden Liegenden getötet haben. Viele der meist 14- bis 17-Jährigen springen panisch in das eiskalte Wasser des Tyrifjords.
„Erst schoss er auf die Leute auf der Insel, dann begann er auf die im Wasser zu schießen”, erzählt die 15-jährige Elise. Das Mädchen versteckt sich unter einem Felsen, Breivik steht direkt über ihr, sieht die junge Frau aber nicht. „Ich konnte ihn atmen hören.” Viele Teenager verständigen Freunde und Verwandte über Facebook und Twitter, schreiben aber dazu: „Ruft mich nicht an.” Es gilt sich vor dem Täter zu verstecken.
Der 21-jährige Adrian Prancon überlebt das Massaker: „Ich bin etwa hundert Meter geschwommen und mir ging die Luft aus. Ich musste zurückschwimmen. Als ich wieder auf der Insel ankam, stand er da und zielte mit dem Gewehr auf meinen Kopf. Ich flehte, dass er nicht abdrückt – und er tat es nicht.” Doch insgesamt 86 Jugendliche haben kein Glück, sie sterben. Und der Täter scheint seinen Triumph zu genießen. Die 22-jährige Nicoline Bjerge Schie zur norwegischen Zeitung „Dagbladet”: „Er schrie und jubelte und gab mehrere Siegesrufe von sich.”
Die Jugendlichen im Wasser versuchen das Festland zu erreichen, die verzweifelten Hilferufe dringen bis an das rettende Ufer. Zu den Rettern gehören auch der Deutsche Marcel Gleffe und seine Eltern Walter und Heidrun, die gerade auf der benachbarten Insel Utvika Urlaub machen. Als sie am Freitagnachmittag plötzlich Schüsse hören, denken die Gleffes zunächst an ein Feuerwerk. Als die drei aber an den See hinunter gehen, wissen sie sofort, dass etwas Schlimmes passiert ist. „Da waren überall Köpfe ringsum zu sehen.”
Marcel Gleffe, der in Norwegen als Dachdecker arbeitet, schnappt sich die Schlüssel seines gemieteten Kahns und fährt auf das Wasser. Er zieht Jugendliche an Bord, schmeißt anderen Schwimmwesten zu. Vier bis fünf Mal fährt der 32-Jährige hinaus, rettet mehr als 20 Menschen. Er sieht den Attentäter auf der anderen Insel, riskiert aber sein eigenes Leben, um den Jugendlichen zu helfen. Manche von ihnen trauen dem Retter zunächst nicht, der Täter schießt weiter auf die fliehenden Schwimmer. „Wir haben uns flach hingelegt, damit wir nichts abbekommen. Zwischendurch war es doch ganz dicht dran an der Insel”, sagt Gleffe. „Ich habe einfach nur noch funktioniert. In so einer Situation denkt man gar nicht nach”, erzählt der Helfer.
Mit Tränengas aus der Luft überwältigt die Polizei Breivik schließlich, um 18.27 Uhr ergibt er sich. Doch ob er, wie er am Sonntag aussagte, ein Einzeltäter ist, bleibt fraglich. Viele Jugendliche wollen einen zweiten Schützen gesehen haben.
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