Anton Hofreiter über Absenkung der Mindesttemperatur: "Da erfriert man nicht"
AZ-Interview mit Anton Hofreiter: Der gebürtige Münchner (52) ist seit 2005 für die Grünen im Bundestag und aktuell Vorsitzender des Europaausschusses.
AZ: Herr Hofreiter, die Regierung hat die Bürger zum Energiesparen aufgerufen - wo schränken Sie sich ein?
ANTON HOFREITER: Es ist absolut richtig, dass man die Leute zum Mitmachen motivieren will. Ich versuche schon länger, Energie zu sparen - soweit es in meinem Arbeitsalltag als Abgeordneter möglich ist. Das letzte halbe Jahr bin ich noch öfter als vorher mit dem Rad zum Bundestag gefahren. Auslandsreisen als Europaausschussvorsitzender versuche ich, wenn möglich, mit der Bahn zu machen, was allerdings manchmal an der Bahn scheitert.
Ihr Parteifreund, Wirtschaftsminister Robert Habeck, duscht angeblich kürzer als fünf Minuten - und Sie?
Ich weiß es nicht genau. Es heißt zwar immer, dass man einen Tick länger duscht, wenn man lange Haare hat. Da ich morgens keine Zeit verlieren will, komme ich aber wohl trotzdem nicht auf mehr als fünf Minuten.
Warm oder kalt?
Das kommt aufs Wetter an.
Hintergrund des Ampel-Appells ist die Angst vor einem Gasnotstand. Was meinen Sie: Dreht der russische Präsident Wladimir Putin den Hahn wieder auf, wenn die Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 beendet sind?
Das kommt völlig auf seine Laune an. Aber gerade davon sollten wir uns nicht zu abhängig machen. Ich glaube, dass das russische Regime die Angstdebatte bei uns sehr genau verfolgt. Deshalb sollten wir selbstbewusster sagen: Wir unterstützen die Ukraine und werden alles tun, um den Angriffskrieg zu stoppen - auch, wenn Putin uns das Gas abstellt. Man darf sich von solchen Drohungen nicht einschüchtern lassen.
"Wir müssen das Gas gerecht verteilen"
Und was ist, wenn tatsächlich kein Gas mehr fließt?
Dann kommt ja nicht gar kein Gas mehr, sondern es kommt kein Gas mehr aus Russland. Durch eine Reihe von Maßnahmen ist es zum Glück schon gelungen, die Abhängigkeit diesbezüglich zu senken: Europa importiert mehr LNG-Gas, wir versuchen Energie zu sparen, wir machen alte Kohlekraftwerke zur Stromerzeugung wieder bereit. Deshalb bin ich optimistisch, dass wir - wenn wir uns bewusst machen, dass wir gerade einen Angriffskrieg in Europa haben - die Sache besser hinkriegen, als es manche jetzt befürchten.
Trotzdem ist bereits die Rede von einer Zerreißprobe für die Gesellschaft. Und nun hat Robert Habeck auch noch durchblicken lassen, dass er im Fall eines Gasnotstandes die privaten Haushalte doch stärker in die Pflicht nehmen möchte, nicht nur die Industrie. Worauf müssen wir uns da einstellen?
Man muss bedenken: Es gibt in der Industrie Gerätschaften, die man nicht abstellen darf, zum Beispiel große Glasschmelzen. Die müssen 24 Stunden an 365 Tagen laufen, sonst gehen sie kaputt und 30 bis 50 Millionen Euro sind auf einen Schlag zerstört. Dann können Sie das Teil entweder verschrotten oder versuchen, es äußerst aufwendig für viele Millionen zu reparieren. In der Chemieindustrie gibt es wiederum Bereiche, in denen man Gas sparen kann, ohne dass die Anlagen kaputtgehen. Daher müssen wir das Gas so gerecht verteilen, dass die Gesellschaft insgesamt bestmöglich durch die Schwierigkeiten kommt.

Welche Einschränkungen für Privatleute wären denkbar?
Etwa eine Absenkung der Mindesttemperatur von 21 oder 22 auf vielleicht 19 Grad - da erfriert man auch nicht. Generell müssen wir den Bezug beschleunigen. Deshalb werden jetzt sehr schnell in Deutschland schwimmende LNG-Terminals eingerichtet und es besteht eine gewisse Chance, dass Ende des Jahres oder Anfang 2023 die ersten davon einsatzfähig sind.
Um bei einem Gasnotstand gegenzusteuern, wird heftig über eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen drei AKW diskutiert. Ihre Partei ist strikt dagegen - und setzt lieber auf schmutzige Kohle. Wie passt das zum grünen Gewissen?
Wir müssen temporär einfach etwas tun. Die drei verbliebenen Atommeiler helfen aufgrund der geringen Zahl nicht weiter. Kohlekraftwerke hingegen haben wir im zweistelligen Bereich - das ist eine ganz andere Nummer. Hinzukommt, dass bei den Kernkraftwerken gerne vergessen wird - mal abgesehen davon, dass sie extrem teuer sind und man nicht weiß, wohin mit dem Müll -, dass man auch Brennelemente braucht. Wozu das führen kann: In der Slowakei gab es, als längst alle Sanktionen gegen Russland in Kraft waren, eine Ausnahmegenehmigung, dass per Flugzeug Kernbrennelemente aus Russland geliefert werden konnten.
Aber Brennstäbe lassen sich doch auch aus anderen Ländern beziehen.
Gar nicht so leicht. Ob aus den USA oder Frankreich oder Uran aus Westafrika - die Bedingungen sind überall schwierig.
"Herr Söder sollte einfach mal mutig sein"
Also Kohlekraftwerke länger laufen lassen beziehungsweise wieder ans Netz. Zerreißt es Ihnen da nicht das Öko-Herz?
Es ist extrem bitter, hilft aber nichts. Gleichzeitig müssen wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien beschleunigen. Wenn wir das richtig gut machen, kommen wir am Ende vielleicht sogar mit einer positiven CO2-Bilanz raus. Da muss allerdings auch in Bayern noch viel passieren. Die CSU-Staatsregierung ist da schon sehr interessant unterwegs.
Inwiefern?
Herr Söder müsste endlich mal den Mut haben, die 10H-Regelung zu beseitigen und zu sagen: Angesichts der Abhängigkeit von russischen fossilen Energien erkennen wir jetzt, dass Windkraftanlagen ein Zeichen von Freiheit sind. Die CSU-Chefs sind lang genug zu Putin gepilgert, von Stoiber über Seehofer zu Söder. Zur Wiedergutmachung sollte Herr Söder einfach mal mutig sein. Das würde ihm nicht schaden.
Markus Söder hat mit einer ganz anderen Technik geliebäugelt, über die immer häufiger gesprochen wird: Fracking. Was halten Sie davon?
Wenn man jetzt auf fossile Energien setzt, müssen sie schnell helfen. Deswegen sind wir temporär für Kohlekraftwerke. Sie stehen schon da und die abgeschalteten wieder betriebsfähig zu machen, ist lediglich eine Frage von Wochen oder Monaten. All die anderen Ideen - dass Senegal ein neues Erdgasfeld erschließt oder man eine Fracking-Industrie aufbaut - würden uns erst in ein paar Jahren helfen. Das sind mittelfristige Lösungen, die uns in der aktuellen Notlage nichts bringen, aber dem Klima schaden. Mittelfristig sollten wir deshalb lieber eine eigene Wasserstoff-Industrie aufbauen.
Sie sind gemeinsam mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Michael Roth als einer der Ersten nach dem russischen Überfall in die Ukraine gereist. Was haben Sie dort erlebt?
Es war unglaublich verblüffend, dass in einer Großstadt wie Lwiw das Leben - auf den ersten Blick - ganz normal weitergeht. Die Leute sitzen im Café, die Kinder gehen zur Schule, die Sonne scheint. Heftig waren allerdings unsere Gespräche mit den verwundeten Soldaten im Krankenhaus, die uns unbedingt ihre eindrucksvollen, oft sehr bedrückenden Geschichten erzählen wollten. Es ist einfach sehr, sehr bitter, wenn jemand erst 21 Jahre alt ist und ihm ein Bein abgenommen werden muss.
Ebenfalls als einer der Ersten haben Sie die Lieferung schwerer Waffen gefordert - und den Kanzler wegen seines Abwägens angegriffen. Mittlerweile sind Panzerhaubitzen aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen. Zufrieden?
Der Antrag, den wir durch den Bundestag gebracht haben, ist richtig gut. Aber mit der Geschwindigkeit, mit der alles passiert, bin ich immer noch nicht zufrieden. Wir haben jeden Tag Krieg. Jeden Tag sterben in der Ukraine sehr viele Menschen - auch, weil die Ukraine immer noch nicht die Ausrüstung hat, die sie eigentlich benötigt.
"In Deutschland dauern Dinge einfach auf ganz vielen Ebenen viel zu lang"
Was wäre das?
Die Ukrainer bräuchten zum Beispiel gepanzerte Transportfahrzeuge, um Soldaten zu verlegen. Das geschieht jetzt auf normalen Lkw, auf denen die Menschen der russischen Artillerie schutzlos ausgeliefert sind. Da müssen wir schneller werden. Aber prinzipiell stimmt die Richtung.
Woran hängt's?
In Deutschland dauern Dinge einfach auf ganz vielen Ebenen viel zu lang.
Einer, der auch immer wieder nach schweren Waffen gerufen hat, ist der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk. Wie bewerten Sie sein oft wenig diplomatisches Auftreten?
Herr Melnyk hat viel dafür getan, dass in Deutschland ein Bewusstsein dafür entstanden ist, wie schrecklich dieser Krieg ist. Aber seine Äußerungen zu Stepan Bandera (ukrainischer Nationalist, d. Red.) waren unsäglich. Das ging gar nicht. Deshalb war Kiews Entscheidung richtig, ihn abzuziehen.
Wie passt es eigentlich zusammen, dass ein Mitglied einer pazifistischen Partei - und als solche bezeichnen sich die Grünen ja - Waffen fordert?
Wir stehen von Anfang an dafür, einerseits Friedenspolitik zu machen und andererseits Menschenrechte zu verteidigen. Und über die Umsetzung gab es immer schon intensive Debatten. Man denke nur an den Bielefelder Parteitag 1999, als es um den Kosovo-Einsatz vor dem Hintergrund des Völkermords von Srebrenica ging, und jemand Joschka Fischer einen Farbbeutel an den Kopf geschmissen hat. Aktuell haben wir es mit einem Fall zu tun, den sich bis vor kurzem nur die wenigsten vorstellen konnten: mit einem neuen Eroberungskrieg in Europa. Eine Diktatur überfällt eine Demokratie, der große Nachbar den kleinen. Das ist ein imperialistischer, kolonialer Eroberungskrieg. Der Ukraine in diesem Fall nicht zu helfen, wäre schlicht unterlassene Hilfeleistung.
Wie lässt sich dieser Krieg beenden?
Indem man den Druck auf Russland so erhöht, dass das russische Regime zu dem Ergebnis kommt, dass es sich weniger lohnt, den Krieg fortzusetzen als ihn zu beenden. Dazu braucht es zwei Dinge: Noch schärfere Sanktionen, wo es möglich ist - etwa beim Swift-System, von dem man noch mehr Banken ausschließen könnte. Und des Weiteren müssen wir die Ukraine so unterstützen, dass Russland den Eindruck bekommt, weitere Angriffe machen einfach keinen Sinn und ernsthaft bereit ist, zu verhandeln. So lange die russische Armee aber weiter vorrückt, auch wenn sie das inzwischen langsamer tut, ist Putin dazu nicht bereit. Wer etwas anderes glaubt, geht zu sehr von sich selbst aus. Putin denkt nicht wie wir: Die eigenen Truppen und die Zerstörungen sind ihm egal, die ermordeten Zivilisten sieht er als hilfreich an, um die Bevölkerung zu terrorisieren. Das müssen wir uns bewusst machen.
"Auch Katzenbilder bekommen nicht nur nette Kommentare"
Sie sind Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag. Was kann die Gemeinschaft tun, um Einfluss auf diesen Krieg zu nehmen?
Möglichst solidarisch sein und möglichst geeint. Außerdem muss sie die Beitrittsperspektive der Ukraine ernst meinen und den Druck auf Moskau erhöhen, indem sie etwa ein EU-Einkaufskartell für Energie gründet, um damit die Gewinne zu senken, die Russland mit dem Verkauf fossiler Energien macht. Und - wie bereits gesagt - sie muss die Ukraine durch gemeinsame Waffenlieferungen so stärken, dass Russland keine Alternative zu Verhandlungen mehr sieht.
Zum Schluss etwas ganz anderes. Unlängst ging ein Foto von Ihnen viral: Sie leiten den Europaausschuss und haben dabei Ihren kleinen Sohn auf dem Schoß. Es gab Likes - aber auch jede Menge Kritik. Wie gehen Sie damit um?
Davon muss man sich völlig frei machen. Ich glaube, selbst die süßesten Katzenbilder bekommen nicht nur nette Kommentare.