Angela Merkel: Die Sphinx im Kanzleramt

An ihr will kein Etikett haften bleiben: Ist sie Machtmensch oder Durchwurschtlerin - so genau weiß das keiner. Das Rätselhafte ist aber durchaus Kalkül.
Berlin - Wer ist Bundeskanzlerin Angela Merkel? Seit zwölf Jahren Bundeskanzlerin, mächtigste Frau der Welt - und doch bleibt sie bisweilen merkwürdig unbekannt, manchmal undurchschaubar. Manche sagen: blass, keine Ideen, die "Zauder-Künstlerin". Wahlweise auch umgekehrt: die Abbruch-Kanzlerin, die mit Energiewende, Euro-Rettung und Flüchtlingspolitik Deutschland auf den Kopf stellt und ruiniert. Das passt alles nicht zusammen.
Solche Grundsatzkritik perlt an Merkel ab, kein Etikett will haften bleiben. Die Sphinx im Kanzleramt? Zu viel Veränderung - oder zu wenig? Machtmensch oder Durchwurschtlerin? Nur eins ist sicher - und für manche verblüffend: ihr Erfolg. Wenn nicht noch eine große Überraschung passiert, bleibt sie nach der Bundestagswahl Kanzlerin. Was ist das Geheimnis?
Das Geheimnis von Bundeskanzlerin Angela Merkel liegt in ihrem zweigeteilten Leben. Kein Kanzler vor ihr, kein Spitzenpolitiker hat ein halbes Leben in einem anderen Land gelebt. Sozusagen nebenan, aber nicht dabei. Das begründet in ihr eine spezifische Unabhängigkeit, Souveränität, die Fähigkeit zur Außenansicht, aber auch eine gewisse angeborene Fremdheit im bundesdeutschen Politik-Geschehen. Das macht sie frei - in vielerlei Hinsicht.
Als Jugendliche war sie auf keiner Party der Jungen Union dabei. Seilschaften, aber auch Schlachterfahrung in innerparteilichen Grabenkämpfen aus der Zeit fehlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel war 35 Jahre alt, da brach die DDR zusammen. Ihr Leben in der kommunistischen Diktatur hat sie geprägt. Übrigens hat sie sich schon damals als Studentin in Leipzig und Berlin für die Politik im unerreichbaren Bonn am Rhein interessiert und heimlich Plenardebatten des Bundestages gelauscht. Später nach der Wende wundern manche sich, dass sie so gut über Adenauer, Strauß und Brandt Bescheid weiß. Auch ohne JU-Wochenendseminar.
Die Leidenschaft fürs Theater ist ein Grund für das Scheitern der Ehe
Merkel, die Unbekannte. Das macht das Tor weit auf für Verschwörungstheorien. Manche wollen sie immer noch entlarven. Eine Sozialistin sitze im Kanzleramt, weil Merkel in der DDR eine FDJ-Funktionärin gewesen sei. Und eine Reise nach Moskau der einstigen Siegerin der "Russisch-Olympiade" wird heute auf manchen Blogs als kommunistische Kaderschulung gedeutet, die sie heute zu Putins Vasallin werden lässt. Viele Grüße aus Absurdistan.
Aus heutiger Sicht ist klar: Merkel hat sicher das Blauhemd auch aus einem gewissen Opportunismus getragen, aus Kalkül, sie war keine Heldin in der DDR. Nie hat sie etwas anderes behauptet. Aber dass sie ihre Überzeugungen verraten hätte, davon berichten die Zeitzeugen auch nicht. Die FDJ gab es in jeder Uni, in jedem Fachbereich. In so einer Studentengruppe war sie dabei. Ihr sei es um die Theaterkarten gegangen, die man als für "Propaganda" ständiges Mitglied in der Studentengruppe zugeteilt bekam.
Ihre Leidenschaft fürs Theater und Kino ist übrigens auch ein Grund für das Scheitern der ersten Ehe. Das Paar wohnte in Berlin-Mitte in der Marienstraße unweit des Berliner Ensembles. Doch Ehemann Ulrich wollte lieber zu Hause bleiben als immerzu unterwegs zu sein. Sie ist dann ausgezogen und hat mit Freunden in Prenzlauer Berg eine Wohnung besetzt. Etwas untypisch für eine CDU-Kanzlerinnen-Biografie.
Doch wie ist das mit den Überzeugungen und Werten? Ist Merkel nicht doch Bundeskanzlerin Angela Merkel ohne Kompass. Bei der "Ehe für alle" nimmt sie den gesellschaftlichen Wandel hin - ohne wie ein Löwe dagegen zu kämpfen? Ähnlich in der Familienpolitik, bei der Wehrpflicht oder dem Mindestlohn. Macht ohne Inhalt? Nein, die Keule trifft die Falsche. Gerade in gesellschaftspolitischen Fragen waren CDU und CSU am Ende doch immer mehr pragmatisch als ideologisch - und sie sind sogar stolz darauf.
Merkel ist kein Kind der Partei, sie wurde lange in der Union nicht wirklich geliebt. Doch als so etwas wie eine angeheiratete Stiefmutter an der Spitze der Partei kennt sie die Funktionsweise der CDU vielleicht besser als manche es wahrhaben wollen. Die CDU ist im Kern mit Freude Kanzlerwahlverein. Vor allem geht es um Gestaltungs-Macht, nicht um ein eng umrissenes Programm, das ist der Wesensunterschied zur SPD.
Gerade Helmut Kohl war in jungen Jahren der Parteireformer, der die CDU auf dieser Grundlage geöffnet hat. Merkel hat von ihm in vielem gelernt, auch was die Genetik der CDU anbelangt. Der konservative Kohl hat übrigens als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz die katholischen Konfessionsschulen abgeschafft. Das ist für die CDU - was die spezifisch ideologische Sprengkraft angeht - auf Landesebene durchaus vergleichbar mit der Abschaffung der Atomenergie auf Bundesebene.
Es gibt eine kleine Anekdote aus Merkels Zeit als Gymnasiastin. Die Abschlussklasse der Erweiterten Oberschule Templin sollte eine Kulturaufführung einstudieren. Zunächst weigerte sich die Klasse, wollte der Propagandaveranstaltung durch Bummelstreik entgehen. Als das misslang, wurde ein kleines Programm einstudiert. Es wurde die Internationale gesungen, aber in der Sprache des Klassenfeindes - auf Englisch. Schon das allein ein Skandälchen. Und es wurde ein Gedicht von Christian Morgenstern aufgesagt: "Moppsleben".
Merkel musste beim Konsistorialrat Stolpe in Berlin Abbitte leisten
Die Gremien nahmen Anstoß an den lustigen Zeilen und mutmaßten staatsfeindliche Gesinnung. Unter anderem heißt es bei Morgenstern: "Es sitzen Möpse gern auf Mauerecken - die sich ins Straßenbild hinaus erstrecken, - um von solchen vorteilhaften Posten - die bunte Welt gemächlich auszukosten."
Gewiss muss man Merkel für diese Kulturaufführung keine Lorbeerkränze binden, es war kein Start in eine Karriere als Widerstandskämpferin, wenngleich Abitur und Studium für Merkel und ihre Kombattanten kurz auf dem Spiel standen.
Mit Hilfe des Vaters Horst Kasner wurden die Wogen geglättet. Merkel musste nach Berlin zum Konsistorialrat Manfred Stolpe fahren, Abbitte leisten. Der spätere Ministerpräsident vermittelte die Angelegenheit zwischen Kirche und Staat. Manche deuten schon diese Rettungsaktion der Schülerin als Systemnähe. Viel wichtiger ist, wie so ein Erlebnis die junge Merkel geprägt haben mag.
Ausgerechnet beim Gesprächsabend der Zeitschrift "Brigitte" legt sie nebenbei nach einer Zuhörerfrage politisch den Schalter um, der ein Räderwerk in Gang setzt, das dann zur Ehe für homosexuelle Paare der sogenannten Ehe für alle geführt hat. So zumindest ist die öffentliche Deutung. Tatsächlich aber wäre es eben nicht Merkel, die hier unbedacht und unvorsichtig neues politisches Terrain beschreitet.
Vor diesem denkwürdigen Montagabend bei "Brigitte" hatte sie bereits das Thema an verschiedenen Stellen so platziert, dass die öffentliche Äußerung zwar zündete, aber keineswegs einen innerparteilichen Tsunami auslöste. Bereits am Samstag zuvor hatte sie mit Horst Seehofer gesprochen, am Sonntag waren die Parteigremien konsultiert worden. Die Sprachregelung lautete: Wenn die SPD das Thema zur Abstimmung bringt, gilt im Bundestag für die Union keine Fraktionsdisziplin, denn es geht um eine Gewissensfrage. Damit war klar: Die Befürworter haben im Parlament eine Mehrheit.
Merkel reißt Staudämme lieber kontrolliert ein, als die große Welle zu beherrschen. Übrigens: Auch das konnte Kohl gut. Nur einmal hat er sich im Bundestag selbst eine Niederlage zugefügt. In der Abtreibungsfrage pochte er 1992 nicht auf den Fraktionszwang, sodass Rita Süßmuth und andere für eine liberale Regelung mit der SPD stimmen konnten.
In der großen Schlacht ist nichts zu gewinnen, so mag man diese Maxime nennen, zumindest nicht, wenn die Volkspartei zusammenhalten soll. Helmut Kohl soll damals gesagt haben: "Wir zeigen Flagge und gehen kämpfend unter." So hat Merkel das auch mit der "Ehe für alle" gemacht.
Vielleicht haben die Kritiker Merkels Recht damit, dass die heutige Kanzlerin und frühere DDR-Bürgerin den offenen politischen Schlagabtausch nicht sucht und liebt, auch lange nicht besonders gut beherrscht hat. Die inhaltliche Zuspitzung, der Marktplatz oder das Bierzelt als Debattenort, der öffentliche Diskurs als Demokratiewerkzeug zur Findung der besseren Lösung - das ist nicht ihre angestammte Welt.
Vielmehr kommt die große Tat manchmal als kleiner Fingerzeig daher oder als überraschender Winkelzug. Der große Kommentar ist dann getarnt als kleine Randbemerkung, manchmal mit einer feinen Ironie wie damals an der Erweiterten Oberschule in Templin.
Ihre humoristische Ader ist auch nicht zu unterschätzen
Zum Beispiel wenn Merkel einer Diskussion mit Basler Studenten ihre Haltung zur drohenden Islamisierung fernab der tausendfach gedroschen Floskeln plötzlich in eine pointierte Formulierung fasst. Wer Angst vor dem Islam habe, solle zunächst mal selbst mehr in die Kirche gehen und so das Christentum retten.
Warum hält sie nicht mal eine große Rede? Warum nicht mal der große, auch angreifbare Aufschlag auf offener Bühne? Das will oder kann sie so nicht. Das hat sie biografisch zumindest lange nicht geübt. Bei ihr kommt das Interessante immer durch die Hintertür.
Manche schätzen übrigens gerade das an ihr. Und dabei ist vor allem ihre humoristische Ader nicht zu unterschätzen. Die letzte Zeile des Morgenstern-Gedichts lautet übrigens: "O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer, - sonst bist du auch ein Mops nur auf der Mauer."
Martin Schulz im Porträt: Der Gerechtigkeitskämpfer
Volker Resing, "Bundeskanzlerin Angela Merkel - Die Protestantin. Ihr Aufstieg, ihre Krisen - und jetzt?", 192 Seiten, kartoniert, 12 Euro.