Analyse zur Wahl in Hessen: Strategisch sprachlos
AZ-Wahlanalyse von Werner Weidenfeld: Der Professor ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München sowie Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg.
Wiesbaden/München – Wie zwei Wochen vorher bei den Wahlen in Bayern gibt es auch in Hessen klare Sieger und Verlierer. Die Verlierer sind die traditionellen Volksparteien CDU und SPD. Die Sieger heißen Grüne und AfD.
Obwohl die beiden hessischen Regierungsparteien – CDU und Grüne – höchst harmonisch und effektiv zusammengearbeitet haben, hat der Wähler den Erfolg unterschiedlich verteilt. Ganz offenbar spielen andere Dimensionen – wie der bundesweite Gesamttrend – eine entscheidende Rolle. Die Daten dokumentieren erneut das "fluide Stimmungsmilieu" unserer Zeit.
Das Wahlergebnis lässt als Konsequenz mehrere Versuche einer Regierungsbildung zu. Diese neue Inszenierung des Machtspiels mit erweiterten Optionen wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Die AfD wird ihren Erfolgsweg fortsetzen
Die AfD wird von den Versuchen der Regierungsbildung ausgeschlossen bleiben. Aber sie wird ihren Erfolgsweg fortsetzen. Er besteht in einfachsten Slogans in komplizierten, unüberschaubaren Zeiten und in intensivster Pflege von Feindbildern.
Drei Parteien werden nach der Hessen-Wahl nun intensiver mit Führungsdebatten beginnen: Am konkretesten wird das Fragezeichen an den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer gerichtet werden. Das Wahldebakel der CSU in Bayern lässt dringend nach Schuldigen suchen. Da hat Seehofer machtpolitisch die schlechtesten Chancen.
Aber auch in SPD und CDU wird die Führungsfrage aufgeworfen. In diesen beiden Parteien wird jedoch das taktische Kalkül zunächst eher für eine Beibehaltung des Status quo sprechen. Die SPD, die in den letzten 15 Jahren acht verschiedene Vorsitzende hatte, wird nicht die Ablösung von Andrea Nahles als Erfolgsrezept verkaufen können. Und bei der CDU mangelt es an Talenten für den Vorsitz – das macht auch die Stärke von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus.
Neuwahlen wären für die SPD ein Untergangsszenario
Veränderungen an der Spitze von SPD oder CDU könnten in der Konsequenz zu Neuwahlen führen – was insbesondere für die SPD eine Art von Untergangsszenario heraufbeschwören würde.
Eine dramatische Konzentration auf Bundeskanzler-Spekulationen erscheint daher nicht als sachgerecht. Es handelt sich um eine tiefgreifende Herausforderung der politischen Kultur. Es wäre naiv zu meinen, wenn ein Kopf an der Spitze rollt, sind die Probleme gelöst. Wir brauchen eine ganz andere strategische Kultur. Die Traditionsparteien – CDU/CSU und SPD – müssen nun endlich ihre strategische Sprachlosigkeit beenden.
Seit der letzten Bundestagswahl und bei allen anschließenden Landtagswahlen – so auch in Hessen – erleben wir die Zeitenwende im deutschen Parteiensystem. Die alten Volksparteien erodieren, verlieren Anhänger auf Anhänger. Die Beweglichkeit der Anhängerschaften hat sich dramatisch vergrößert. In früheren Zeiten wurden bereits drei Prozent Gewinn oder Verlust als ein tiefgreifender Wandel verstanden, heute sind es 10 Prozent und mehr. CDU, CSU und SPD werden sich Gedanken machen müssen, wie sie wieder eine Identität finden, die eine Erfolgsperspektive eröffnet.
Die Volksparteien versagen bei der Strategieentwicklung
Beide Parteiformationen brauchen eine Zukunftsstrategie, ein Zukunftsbild, eine positive Aufbruchsrhetorik, eine emotional bindende Zuversicht, die Optimismus verbreitet. Beide Vorsitzende, Merkel wie Nahles, wären gut beraten, eine solche Perspektive sowohl programmatisch wie kulturell und psychologisch zu erarbeiten – oder erarbeiten zu lassen – und dann engagiert zu vermitteln. Merkwürdig erscheint es, dass zu dieser existenziellen Rettung der Parteien bisher nur Fehlanzeige zu melden ist. Die Strategie-Entwicklung wird immer wieder vertagt.
Auch die Hessen-Wahl zeigt doch: Es besteht ein elementarer Bedarf an Orientierungswissen, an einem glaubwürdigen Zukunfts-Narrativ. Die strategische Schweigsamkeit der traditionellen Volksparteien zu diesen Existenzfragen wird zu einem Ärgernis. Es führt zum Vertrauensverlust – und dabei ist Vertrauen der Sauerstoff der modernen Gesellschaft. Die Menschen sind auf der Suche nach begeisternder Orientierung. Die Politik sollte dazu auch den immateriellen Reichtum des Landes auftun und vermitteln.
Der Erfolg der Grünen ist dagegen leicht erklärbar: Die Partei hat ihr revolutionäres, auch manchmal aggressives Profil aus den Gründerzeiten längst abgelegt. Sie ist eine bürgerliche Partei mit optimistischer Perspektive und besonderem Engagement für Naturschutz und Klimarettung geworden. Das Konzept der Nachhaltigkeit hat Konjunktur.
Die Rhetorik der Grünen verbreitet Aufbruch, Zuversicht und Lebensfreude. Die Grünen sind zum starken Produzenten einer Wohlfühlstimmung geworden. Dieser Stil wirkt wie ein Magnet.