Ampel will Steuerbefreiung für Überstunden

Christian Lindner will "Lust auf Überstunden" machen. Dafür sollen Zuschläge für Mehrarbeit steuerfrei werden. Während die Mehrheit an Arbeitnehmern wenig überraschend einer Steuerbefreiung zustimmen, befürchten Experten negative Folgen ‒ auch für die Gesundheit.
Niclas Vaccalluzzo
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Schon genug gearbeitet? Bundesfinanzminister Christian Lindner will Anreize für Mehrarbeit schaffen.
Schon genug gearbeitet? Bundesfinanzminister Christian Lindner will Anreize für Mehrarbeit schaffen. © imago

München - Christian Lindner (FDP) will "Lust auf Überstunden" machen. Deshalb hat sich der Bundeswirtschaftsminister Anfang April für Steuervorteile bei der Mehrarbeit stark gemacht. Nun sollen die Zuschläge auf Überstunden steuer- und beitragsfrei werden.

Die Steuererleichterungen sind Teil der Wachstumsinitiative, auf die sich die Spitzen der Ampel-Koalition geeinigt haben. Sie sollen in dieser Woche vom Kabinett beschlossen werden.

Was plant die Bundesregierung? Wenn Arbeitnehmer Zuschläge für Mehrarbeit ‒ also Überstunden ‒ bekommen, sollen diese in Zukunft steuer- und beitragsfrei werden. Die Steuerfreiheit soll vermutlich nur für Vollzeitkräfte gelten. Das Hauptziel der vor einer Woche von der Ampel-Koalition vorgestellten "Wachstumsinitiative" ist, mehr Menschen in Arbeit zu bringen und Anreize für Mehrarbeit zu schaffen.

Mehrheit an Arbeitnehmern befürwortet Steuerbefreiung für Überstunden

Wenig überraschend stimmt eine Mehrheit der Arbeitnehmer in Deutschland Steuerbefreiungen für Überstunden zu. In einer Studie der Jobseite "Indeed" befürworten 63,9 Prozent gar eine vollständige Steuerbefreiung von Überstunden und würden diese als Motivation für Mehrarbeit sehen.

Die Studie wurde bereits im Mai ‒ kurz nach Aufkommen der Debatte ‒ durchgeführt. 30,5 Prozent der Befragten finden eine solche Regelung nicht gut. Der Umfrage zufolge befürworten Personen mit einem hohen Netto-Haushaltseinkommen in Höhe von mehr als 5000 Euro eine Steuerbefreiung von Überstunden (75,7 Prozent) deutlich häufiger.

Finanzminister Lindner (FDP) will "Lust auf Überstunden" machen.
Finanzminister Lindner (FDP) will "Lust auf Überstunden" machen. © Soeren Stache/dpa

Viele befürchten, der Arbeitgeber könnte die Neuregelung ausnutzen

Allerdings leisten diese Personen schon jetzt überdurchschnittlich oft Überstunden und würden somit direkt von einer solchen Regelung profitieren. Konkret gaben 93 Prozent der Menschen mit einem Netto-Haushaltseinkommen in Höhe von mehr als 5000 Euro an, regelmäßig Überstunden zu leisten.

In der Gesamtbevölkerung fällt dieser Wert mit 87,6 Prozent geringer aus. Viele Arbeitskräfte befürchten mögliche negative Auswirkungen. Etwas mehr als die Hälfte der befragten Arbeitnehmer (54,9 Prozent) sorgt sich darum, dass Arbeitgeber eine Regelung zur Steuerbefreiung von Überstunden ausnutzen könnten. 60 Prozent befürchten sogar negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Privatleben.

Vize-Kanzler Robert Habeck (l), Kanzler Olaf Scholz (M) und Finanzminister Christian Lindner haben Pläne für Steuerbefreiungen auf Überstunden.
Vize-Kanzler Robert Habeck (l), Kanzler Olaf Scholz (M) und Finanzminister Christian Lindner haben Pläne für Steuerbefreiungen auf Überstunden. © Kay Nietfeld/dpa

Expertin: Förderung von Überstunden verstärkt Fachkräftemangel

Annina Hering, Arbeitsmarktexpertin von "Indeed", befürchtet, dass die Maßnahme der Bundesregierung in der Praxis weder den Arbeitskräftemangel bekämpft, noch die Produktivität steigert. "Berechtigterweise sorgen sich 60 Prozent der Arbeitnehmenden in Deutschland, dass sich eine Regelung zur Steuerbefreiung von Überstunden negativ auf ihr Privatleben sowie ihre Gesundheit auswirken und von Unternehmen ausgenutzt werden könnte."

Ein solches Gesetz schaffe schließlich Anreize dafür, dem Arbeitskräftemangel in Unternehmen durch mehr Überstunden zu begegnen, anstatt offene Stellen möglichst schnell zu besetzen, glaubt sie. "Mehr Überstunden führen jedoch auch zu mehr Krankschreibungen. Die Förderung von Überstunden wird den Arbeitskräftemangel in Deutschland deshalb nicht lösen, sondern sogar verstärken", sagt Hering.

Verdi bleibt dabei: Eine generelle Reduzierung der Arbeitszeit ist besser 

Die Gewerkschaft Verdi lehne den Vorschlag der Bundesregierung entschieden ab, sagt Nils Schmidbauer vom Verdi-Landesbezirk Bayern auf Anfrage der AZ. "Diese Maßnahme würde zu einer Aushöhlung des Normalarbeitsverhältnisses führen und den Druck auf Beschäftigte erhöhen, dauerhafte Mehrarbeit zu leisten."

Darunter würden vor allem einkommensschwache und Teilzeit-Beschäftigte besonders leiden. Die Gewerkschaft setze sich stattdessen für eine generelle Reduzierung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich ein. "Ebenso muss zunächst überall gewährleistet werden, dass alle entstanden Überstunden überhaupt erfasst werden", fordert er. "Das sind die richtigen Wege, um die Situation der Beschäftigten nachhaltig zu verbessern."

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Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) befürchtet eine weitere Absenkung der Wochenarbeitszeit. Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der vbw, sagt der AZ, eine derartige Regelung könne den Druck erhöhen, die reguläre Arbeitszeit weiter zu senken, damit es mehr Überstunden gibt, auf die die Steuerbefreiung zutreffe.

Die Beschäftigten in Deutschland haben 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden gemacht

"Damit schlagen wir die falsche Richtung ein, denn wir haben in Deutschland ohnehin schon jetzt mit die kürzesten Wochenarbeitszeiten aller Industrieländer." Mehr Regelungen zu Überstunden würden zusätzliche Bürokratie ohne Nutzen für Unternehmen und Beschäftigte schaffen.

"Ansetzen sollte man vielmehr generell am zu hohen Steuerniveau", so Brossardt. Das müsse durch eine Reform des Einkommenssteuertarifs für alle gesenkt werden.

Die Beschäftigten in Deutschland haben 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden gemacht. 775 Millionen dieser Stunden waren unbezahlt, wie aus Zahlen des Bundesarbeitsministeriums hervorgeht. Demnach entsprach die Summe der im vergangenen Jahr geleisteten Überstunden umgerechnet 835.000 Vollzeitstellen. Auf jeden Beschäftigten entfielen 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden, davon 18,4 Stunden unbezahlt.

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2 Kommentare
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  • Der wahre tscharlie am 17.07.2024 18:39 Uhr / Bewertung:

    "Christian Lindner will "Lust auf Überstunden" machen."

    Lt einer Studie leistet ca. jeder Zweite UNBEZAHLTE Überstunden.
    Und Lindner will eine Steuerbefreiung für Überstunden und auch noch "Lust auf Überstunden" machen? :-)
    W§ie weit ist der Mann eigentlich von der Arbeitswelt entfernt?

  • Himbeergselchts am 17.07.2024 16:51 Uhr / Bewertung:

    Ja, der Arbeitskräftemangel. Was hörten wir nicht alles von Merkel, Göring-Eckardt und co vor knapp neun Jahren zu einer Zuwanderung von Fachkräften.
    Jetzt haben wir 5,5 Mio Bürgergeldempfänger zu finanzieren, 4 Mio davon sollen arbeitsfähig sein und es reicht immer noch nicht, um den Mangel abzumildern.
    Bei uns im Landratsamt wird das Papier der ausgeschriebenen Jobs an der Pinnwand gelb.
    Ich würde mit 2 ,3 oder mehr Kindern auch nicht für 2000.— brutto arbeiten, wenn die Alternative Lebensunterhalt 1006,— Eltern, je nach Alter der Kinder Minimum 780,— (2Kleinkinder) oder 1 330,— für drei Kinder (1 unter 6, 2 drüber), Miete, Nebenkosten, Heizung, Zuschüsse für Schulzeug, volle Übernahme des Kitabeitrags, Kassenbeiträge etc übernommen würde.
    Wer ist schon so selbstlos oder doof?

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