Alt-Bundespräsident Joachim Gauck mahnt die Deutschen: "Brauchen Bereitschaft, unsere Freiheit zu verteidigen"

AZ: Herr Gauck, in "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" beschreiben Sie das Leben in Diktatur und Unfreiheit. Jüngst haben Sie immer wieder in Wort und Schrift daran erinnert, dass es Zeiten geben kann, in denen man den Frieden mit der Waffe in der Hand verteidigen müsse. Viele Menschen im Nordosten der EU, aber auch in Deutschland fürchten einen Krieg gegen Russland, der Verteidigungsminister spricht davon, dass das Land kriegstüchtig werden müsse. Wie sehr sind wir Ihrer Meinung nach dazu fähig, vor allem auch mental?
JOACHIM GAUCK: Nach 1990 haben wir uns daran gewöhnt, in einer Ära des Friedens zu leben. Das Thema Verteidigung spielte keine wichtige Rolle, so wurde die Bundeswehr massiv geschwächt und Verteidigungsbereitschaft war mental kein Thema mehr. Deshalb gibt es die mahnenden Worte des Ministers. Auch hat in der Bevölkerung ein Mentalitätswandel begonnen. Unter dem Eindruck von Putins brutaler Aggression erkennen mehr und mehr Menschen im Land, dass wir eine Entschlossenheit wiedergewinnen müssen, wie sie zu Zeiten des Kalten Kriegs existierte. Wir brauchen die Bereitschaft, unsere Demokratie, den Raum unserer Freiheit, den wir unter Mühen erkämpft haben, auch zu verteidigen. Die Mehrheit der Bevölkerung erkennt, dass Friedenssicherung nur geht, wenn wir der Bedrohung eigene Stärke entgegenstellen. Wenn wir dafür auch Geld ausgeben und mentale Ressourcen einsetzen. Wir sind die, die etwas zu verlieren haben.

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck: "Dürfen unseren Realitätssinn nicht dem Friedenswunsch opfern"
Viele Menschen fordern Verhandlungen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Parteien, die für ein Zugehen auf Russland plädieren, haben in Ostdeutschland in Umfragen viel Zuspruch. Wie erklären Sie sich das – und hat diese Haltung der Menschen auch ihre Berechtigung?
Den Wunsch nach Frieden kann ich nachvollziehen und ich teile ihn selbstverständlich. Entscheidend ist, dass wir unseren Realitätssinn diesem Wunsch nicht opfern. Denn an Verhandlungsbereitschaft mangelt es vor allem auf der russischen Seite. Putin verspricht sich offensichtlich mehr von der Fortführung seines imperialen Feldzugs gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung, deren Unabhängigkeit er beseitigen will. Unser Ziel muss es sein, dass die Ukraine aus einer Position der Stärke und zu eigenen Bedingungen in Friedensverhandlungen geht. Es ist in unserem Sicherheitsinteresse, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Wenn ein Teil der Ostdeutschen, unterstützt von AfD und zahlreichen Linken, das anders sieht, so beruht das weniger auf alter Freundschaft, sondern mehr auf alter Furcht: "Leg dich nicht mit denen an, in deren Gewalt du bist oder geraten kannst."
"Die Mehrheit der Deutschen hat das begriffen"
Bundesweit gibt es anhaltend Demonstrationen gegen rechts. Andererseits gibt es eine vergleichsweise befremdliche Stille nach offen antisemitischen Angriffen. Wie weit ist Gesamtdeutschland in Sachen wehrhafte Demokratie?
Die zahlreichen Demonstrationen in kleinen und großen Städten in allen Teilen unseres Landes zeigen: Die Rechtsradikalen haben nicht die Macht, die deutsche Politik zu bestimmen. Und sie werden sie auch nicht bekommen. Anders als in der Zeit der Weimarer Republik, als wir Demokratie hatten, aber zu wenig Demokraten, hat dieses Land Demokratie und Demokraten - und dazu noch wachsame. Das sollte uns mit Zuversicht auf die Widerstandskraft unserer Demokratie blicken lassen. Ich wünsche mir, dass sich die Demonstrationen noch häufiger auch explizit gegen Antisemitismus stellen, wie es zum Beispiel auf der Münchner Theresienwiese beim "Lichtermeer für Demokratie" vor einigen Wochen der Fall war. Gegen alle Formen von Antisemitismus müssen wir Bürger und die staatlichen Institutionen verlässlich und sehr entschieden vorgehen. Egal ob der Antisemitismus von rechts von links oder von islamischen oder islamistischen Milieus ausgeht. Die Mehrheit der Deutschen hat das begriffen und weiß, dass unsere Demokratie nur dann Zukunft hat, wenn sie wehrhaft ist.

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