Afghanistan-Versagen: Die Schuld der Unschuldigen
Während sich am Flughafen von Kabul weiter dramatische Szenen abspielen, am Frankfurter Flughafen Flugzeuge mit aus der afghanischen Hauptstadt Kabul geretteten Menschen landeten, streitet in Berlin die Politik um die Frage, wer für die Pannen bei der Evakuierung verantwortlich ist. Auf der Zielgeraden ihrer Koalition tauschen Union und SPD Vorwürfe aus, weisen eigene Verantwortung zurück - das Afghanistan-Debakel ist mitten im Wahlkampf gelandet.
Seehofer: "Für die Vergabe der Visa sind nicht wir zuständig"
Symptomatisch ist am Donnerstagnachmittag der Auftritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der CSU-Politiker bekräftigte nach einer Sitzung des Innenausschusses die moralische Verantwortung für die Aufnahme der afghanischen Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen. Darüber hinaus könne er keinerlei Prognosen über mögliche Flüchtlingszahlen geben.
Vorwürfe, dass sein Ministerium die Rettung der Helfer der Bundeswehr durch hohe Anforderungen bei der Visa-Vergabe blockiert habe, weist er zurück. "Für die Vergabe der Visa sind nicht wir zuständig", sagt er. Er wolle auf niemanden mit dem Finger zeigen, sagt er.
Doch klar ist: Der Vorwurf geht in Richtung des Auswärtigen Amtes und dessen Chef, Außenminister Heiko Maas von der SPD. Das Innenministerium müsse lediglich die Sicherheitsfreigabe erteilen. Die sei notwendig, sagt Seehofer. Unzumutbare bürokratische Hürden habe sein Ministerium jedenfalls nicht aufgebaut.
Die Schuldzuweisungen gehen hin und her in der Hauptstadt. Es geht darum, warum Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) die deutschen Rettungsflieger so spät losschickte. Warum Außenminister Heiko Maas (SPD) die Warnungen der eigenen Diplomaten vor den Islamisten offenbar in den Wind schlug. Warum die Geheimdienste, für die Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) zuständig ist, derart falsch lagen.
Horcht man ein wenig in das Auswärtige Amt und das Innenministerium hinein, ergibt sich das Bild einer trotz rascher Geländegewinne der Taliban unverdrossen vor sich hin mahlenden Ministerialbürokratie. Beide Häuser tauschen Akten aus, Abteilungsleiter denken sich Lösungen aus, Staatssekretäre reden darüber. Das Auswärtige Amt wartet darauf, dass das Innenministerium erklärt, welche Afghanen einen Aufenthaltstitel bekommen. Erst wenn das geklärt ist, soll die Botschaft die Visa ausstellen - und erst dann sollen die in Gefahr Schwebenden ausgeflogen werden.
Das Innenministerium besteht aber auf genauer Prüfung, wer da nach Deutschland kommen soll und denkt sich ein umständliches Verfahren aus. In dem von der CSU geführten Haus hat sich in den Köpfen festgesetzt, dass sich eine Flüchtlingskrise wie 2015 nicht noch einmal wiederholen soll.
Außenminister Maas (SPD) bestand aber nicht auf einer Entscheidung von Innenminister Horst Seehofer (CSU), wer von den Ortskräften Schutz in Deutschland erhalten soll.
Bereits Ende Juni standen zwei Charterflugzeuge bereit
Bekannt wurde am Donnerstag auch, dass das Bundesverteidigungsministerium bereits Ende Juni zwei Charterflugzeuge bereitgestellt hatte, um rund 300 Ortskräfte - etwa Bundeswehr-Dolmetscher - aus dem Norden des Krisenlandes auszufliegen. Doch ein Flug fand schließlich nicht statt. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass ein Charterflug nicht notwendig gewesen sei, weil die Menschen Ende Juni noch auf anderem Wege ausfliegen konnten.
Seehofers Innenministerium bestreitet, von diesen geplanten Flügen überhaupt gewusst zu haben. Es geht hin und her. Entgegen aller Beteuerungen: Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.
Die Opposition sieht rund um das Afghanistan-Debakel noch zahlreiche offene Fragen. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae verortet die Schuld nicht nur beim Geheimdienst, sondern spricht von "Versagen bei einer ganzen Reihe von Stellen". Das gelte es nun zu aufzuklären. Dazu schloss er auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht aus.