Abgeriegeltes Tirol: Zwischen Hybris und Selbstmitleid

Das österreichische Bundesland ist seit Donnerstag abgeriegelt vom Rest der Welt. Nun liegt es da zwischen Hybris und Selbstmitleid - Betrachtungen eines in Bayern lebenden Innsbruckers.
von  Stephan Kabosch
Blick auf die Maria-Theresien-Straße in Innsbruck.
Blick auf die Maria-Theresien-Straße in Innsbruck. © picture alliance/dpa/APA

"Seid ihr alle so?", wird man außerhalb der Landesgrenzen in diesen Tagen als Tiroler oft gefragt. Gemeint sind die Landespolitiker und Seilbahn-Chefs, die Wirtschaftsvertreter und Kammerpräsidenten mit ihren einmal wehleidigen, das andere Mal martialischen Auftritten in der Öffentlichkeit. Da fallen dann Zitate wie diese: "Die Wiener werden uns noch kennenlernen", "Wenn ihr uns abriegelt, machen wir in Tirol alles auf" und "Wir sperren das Land für den Transitverkehr".

Niemand darf Tirol ohne negativen Corona-Test verlassen

Fehlte nur noch der Marschbefehl für die Schützenkompanien vom Wilden Westen Österreichs in Richtung Wien. Trifft dieses zwischen Selbstüberschätzung und Selbstmitleid mäandernde Gehabe tatsächlich die Stimmung im Land? Vertreten diese Volks- und Wirtschaftsvertreter wirklich die Menschen zwischen dem Außerfern und Kufstein? Sind die Tiroler alle so wie diese Experten für angewandten Alpincharme?

Hintergrund für den Tiroler Freiheitskampf anno 2021 ist die seit dem heutigen Freitag geltende faktische Abriegelung des Landes. Niemand darf Tirol verlassen ohne einen negativen Corona-Test. Die Bundesregierung in Wien hat dies angeordnet, weil Tirol ein Problem hat mit Infektionen der so gefährlichen Südafrika-Mutante. Zugegeben, man testet und sequenziert mehr als jedes andere Bundesland.

Corona-Beschränkungen: Tiroler Verantwortliche wollen keine Einmischung von außen

Aber anstatt sofort und rigoros zu handeln (etwa durch die frühzeitige Quarantäne für einzelne Gemeinden), verbaten sich die Tiroler Verantwortlichen jede Einmischung von außen, verstiegen sich ins Jonglieren mit Zahlen und einen alternativen Umgang mit Fakten, stilisierten sich als Opfer. Sie haben nichts gelernt, sie wollen nichts lernen aus Ischgl.

Und während sich ein Großteil der Bevölkerung an Corona-Beschränkungen hält, lässt es eine Minderheit zu, dass vor Privatunterkünften und Liftanlagen immer noch Autos mit deutschen, belgischen und dänischen Kennzeichen parken. Die Almhütten mögen geschlossen sein, doch wird der Jägertee durch das Fenster verkauft. Zillertaler Hoteliers fliegen nach Südafrika zum Golfspielen - womöglich mit der Corona-Mutante im Rückreisegepäck.

Einst arme Bergbauern sind heute reiche Liftkaiser

Tirol hat es sich und seiner Hybris zuzuschreiben, wenn Wien nun durchgreift. Es ist eine Nothilfemaßnahme, die der mächtige Tiroler Seilbahn-Chef Franz Hörl, der nebenbei für die regierende Österreichische Volkspartei (ÖVP) im Bundesparlament sitzt, lässig polternd als "Rülpser" kommentiert. "Seid ihr alle so?" - Die Annäherung an eine Antwort kann im Blick auf die Vergangenheit liegen. Es sind nur ein paar Jahrzehnte, die aus armen Bergbauern reiche Liftkaiser gemacht haben, aus einfachen Nebenerwerbs-Handwerkern weltläufige Hoteliers. Gerade einmal gut 100 Jahre liegt die Zeit der Schwabenkinder zurück, in der die Bauern ihre Töchter und Söhne ins Allgäu schicken mussten, weil sie sie nicht durch den kargen Winter hätten bringen können. Heute schicken sie den Nachwuchs zum Studieren hinaus aus den Tälern - Welthandel in Wien, Internationales Management in St. Gallen.

Möglich gemacht hat dies nicht nur, aber vor allem der Tourismus. Jeder fünfte in Tirol erwirtschaftete Euro wird heute im Fremdenverkehr verdient, jeder vierte Arbeitsplatz hängt direkt am Tourismus. Vielleicht muss man als Außenstehender um die Abhängigkeit des Landes von dieser einen Branche wissen, damit sich das momentane Gehabe der Verantwortlichen verstehen oder wenigstens erklären lässt, der Kampf um jeden laufenden Skilift, der Einsatz für jedes geöffnete Hotel.

Es ist auch ein steiniger Weg in die Moderne gewesen

Und doch lässt sich natürlich auch Tirol nicht auf den Tourismus reduzieren. Die Öffnung, die Modernisierung haben auch die restliche Wirtschaft umfasst, die Wissenschaft, die Kultur, eine aufgeklärte Gesellschaft. Innsbruck hat rund 115.000 Einwohner. An seiner Universität sind fast 30.000 Studierende eingeschrieben, ein gutes Drittel davon kommt aus anderen Ländern - und dies längst nicht mehr nur, um ein Skifahr-Semester einzulegen. An der Alma Mater ebenso wie an der Universitätsklinik lehren und forschen internationale Experten von Rang.

Dabei war es - zur Topografie des Landes passend - ein mitunter auch steiniger Weg in die Moderne, auf dem die Brocken eines erzkatholisch geprägten Konservatismus weggeräumt werden mussten. Es brauchte Vor- und Querdenker wie Andreas Braun, der in den 90er Jahren der oberste Werber des Landes war und diesem erfolgreich ein neues Image verpasste. Die Gastronomen und Hoteliers hätten Braun wohl am liebsten gesteinigt, weil dieser es gewagt hatte, die Qualität der heimischen Wirtshausküche zu kritisieren ("Von zehn bestellten Gulasch-Portionen sind in Österreich sieben schlecht").

Adlerrunde: Zusammenschluss von rund 50 reichen und superreichen Unternehmern

Nebenbei hat er auch die autoritär geprägte Kultur vom "Händefalten, Goschn halten" öffentlich beklagt. Mittlerweile haben selbst Brauns größte Kritiker eingesehen, dass er in sehr vielem recht hatte. Dem Land Tirol und seinen Menschen geht es relativ gut. Noch. Wenn man sich die Äußerungen der vergangenen Tage anhört, drängt sich jedoch die Sorge einer negativen Entwicklung auf. Da ist dann kein Platz für Kritikfähigkeit, wenig Raum für Einsichtsvermögen - aber ein weites Feld für Selbstherrlichkeit.

Und so kann man sich der Antwort auf die Frage "Seid ihr alle so?" auch annähern mit einem Blick auf die "Adlerrunde". Das ist ein 2003 gegründeter Zusammenschluss von rund 50 reichen und superreichen Unternehmern. Franz Hörl, der Seilbahn-Chef und Parlamentarier, ist auch dabei. Allein dies kann als Beleg dafür dienen, dass sich das Land noch nicht ausreichend von alten Machtzentren und verkrusteten Strukturen gelöst hat. Der Geldadel hofiert die Politik-Granden, unterstützt Wahlkämpfe und stellt Forderungen - etwa nach einem Zwölf-Stunden-Tag in der Gastronomie oder eben nach einem Offenhalten der Skilifte.

Die "Adlerrunde" hat sich das "rechtzeitige Erkennen globaler Trends und Herausforderungen" zum Ziel gesetzt. Das muss man auch von Tirols Regierenden verlangen dürfen. Zumindest im Umgang mit der Corona-Krise haben sie die Herausforderungen nicht erkannt. Zum Schaden des Landes und seiner Menschen, von denen die meisten nicht "so sind".

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