WM - Auf welche Mannschaft wir stehen: So ticken die Fans
Laut Psychologen zeigt eine Fußball-WM die Psyche der Nation. Warum die Deutschen heuer anders fühlen als 2006 und warum sie bestimmte Länder als Reserve-Lieblinge wählen ...
Das mit dem Sommermärchen dauert noch, sowohl was das Wetter angeht, als auch die Ergebnisse. Allerdings knüpfen die deutschen Fans nicht nahtlos an die Euphorie von 2006, an die Schwarz-Rot-Gold-Party an. Der Psychologe Stephan Grünewald nennt die WM 2006 einen Befreiungsschlag. „Die Deutsche zeigten leidenschaftliche Begeisterung fürs eigene Land und wurden trotzdem, anders als viele befürchteten, als freundliche Gastgeber wahrgenommen.“ Grünewald ist Chef des Rheingold-Instituts und hat sich mit dem Zusammenhang zwischen WM und politischer Befindlichkeit der Nation befasst.
Für 2010 sieht er ganz andere Voraussetzungen als 2006. „Die Stimmung ist von einer tiefen Vertrauenskrise ins eigene Land geprägt.“ Finanz- und Eurokrise machen vielen Angst, die politische Elite wackelt. „Nach Köhlers Rücktritt sind wir sozusagen ein Vaterland ohne Vater. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel war 2006 so etwas wie ein nationaler Schutzengel, heute wird sie nur noch als Teil eines politischen Lagers wahrgenommen.“
Was bedeutet das für den Fußball und die Fans? „Der Fußball hat die große Aufgabe, wieder Gemeinschaft zu stiften. Wir wünschen uns, dass wir am Fußballfeld und beim Public Viewing wieder einen gemeinsamen Glauben an etwas finden und dass diese Stimmung das ganze Land nach vorne bringt.“ Deswegen sei ein frühes Ausscheiden auch fatal. „Dann wären die Deutschen zurückgeworfen auf die politische Orientierungslosigkeit.“
Doch die Deutschen fühlen nicht nur mit der eigenen Mannschaft, sondern auch mit anderen Nationen. Das ist einerseits typisch Fußball. „Als Zuschauer tritt man immer in eine Schicksalsgemeinschaft ein.“ Andererseits sei das auch typisch deutsch. „Die Deutschen waren jahrzehntelang nicht eins mit ihrer Nationalität. Nur für Deutschland zu sein, war verpönt. Deswegen hatte der Deutsche gerne einen Reserve-Liebling.“
Wer dieser Liebling ist, das sagt dann auch wieder etwas über den Fremdgeh-Fan. „Oft hat man einen persönlichen Bezug, kennt Leute aus dem Land oder fährt dorthin in den Urlaub.“ Da punkten südeuropäische Länder wie Italien oder Spanien, deren Lebensart viele Deutsche neidvoll schätzen. Eine feste Größe ist auch der frankophile Deutsche.
Anders der Fußball-Idealist. „Er sucht eine ideelle Gemeinschaft, zum Beispiel eine Spiel-Philosophie. Das ist bei Brasilien-Fans oft der Fall.“ Dann gibt es den WM–Gutmenschen. „Das sind die, die immer mit den Schwachen, mit den Davids dieser Welt, solidarisch sind.“ Das kann ein Faible für afrikanische Länder bedeuten – oder für jeden, der gegen Favoriten antritt. Und Schließlich: Es ist sogar ok, Nordkorea zu mögen. „Auf der Weltbühne Fußball können Länder ihr Image abseits der Politik verändern. Da können auch Nordkoreaner ein paar Sympathiepunkte sammeln.“ Tina Angerer
Wenn „Wir“ mal nicht mit Deutschland zittern oder jubeln, dann haben alle Fans noch andere Vorlieben – sozusagen noch eine „Zweitleidenschaft“. Die Motive sind dabei so unterschiedlich wie die Ziele der Zuneigung. Alle menschlichen Regungen von Neid bis Mitleid, von politischer Korrektheit bis kindlichem Patriotismus scheinen dann durch: Auch in der AZ-Redaktion findet sich das Spektrum mehr oder weniger fachkundig fundierter Leidenschaft.
...Urlaubsländer
Ich halte zu den Ländern, in denen ich am liebsten Urlaub mache. Quasi aus Dankbarkeit – für schöne Tage, nette Leute, tolle Landschaft. Okay, heuer habe ich es dumm getroffen: Meine Lieblingsziele sind Australien und Frankreich.
Die Socceroos sahen gegen uns ganz schlecht aus. Und les Bleus... Mon Dieu! Die Franzosen haben die WM-Quali ja übrigens nur wegen eines Handspiel-Tores gegen Irland geschafft. Deshalb fahre ich heuer mal dorthin – zum Trösten. Annette Zoch
...Ex-Bayern-Stars
Er ist der Büffel, an dem die Gegner abprallen. Lúcio, der Kapitän der Brasilianer, organisiert die Abwehr eisenhart und kompromisslos. Seine Wucht, seine Kopfballstärke. „Schaut ihn euch an“, würde ich Uli Hoeneß und Louis van Gaal gerne quälen.
Es war ein fataler Fehler, ihn beim FC Bayern auszumustern. Ein besonderer Triumph muss für Lúcio gewesen sein, bei der Champions League Robben, Olic und Müller auflaufen zu lassen. Jetzt ist der Brasilianer auf dem Weg zum Weltmeister. Aber vielleicht kämpfen unsere Jungs in Südafrika doch noch wie die Löwen. Denn die können als einzige auch einen Büffel bezwingen. Angela Böhm
...hässliche Entlein
Nichts würzt die Fangesellschaft mehr als das klare Bekenntnis zum krassen Außenseiter. Und der Advocatus Diaboli 2010 muss natürlich fürs hässliche Entlein Nordkorea sein.
Dass die vermutlich vom großen Führer ferngesteuerten Aliens zumindest gegen Brasilien ganz gut mitgekickt haben, macht die Sache leichter. Das Spiel mit der Liebe zum Unsympathieträger hat allerdings Grenzen: Für Holland sein, das geht zu weit. Matthias Maus
...Alle außer Italien
Der unverdiente Weltmeister von 2006 ist eine Ruine. Erkennbar sind nur die hässlichen Überreste des italienischen Spiels: Bei geringstem Körperkontakt schreiend zu Boden fallen und eine Karte einfordern!
Schon der Schriftsteller Stendhal verachtete den falschen Charakter: „Die italienische Kanaille ist die ärgerlichste auf Erden.“ Das hat sich in 200 Jahren nicht geändert. Doch Gott (oder die Mafia?) schenkt den Azzurri immer einen unberechtigten Elfmeter. Das reicht schon wieder fürs Finale. Volker Isfort
...Italien
Ja, es gibt tausend Gründe, die Squadra Azzurra doof zu finden, mindestens: Dieses kalte Spiel, die Fallsucht im Strafraum, die faschistoide Gesinnung einiger Spieler... Und doch ist es meine Mannschaft.
Als Kind, weil sie die schönsten Trikots hatten. Jetzt, weil sie sich so herrlich aufregen über vermeintliche Benachteiligungen, weil sogar in ihrer Larmoyanz ein Schuss Grandezza steckt. Und außerdem: Beim Essen und Fansein hört meine Integrationsbereitschaft einfach auf. Filippo Catalodo
...Oldies
Sein Haar erscheint schütter, sein Gesicht gegerbt und sein Bauch, nunja, da sind schon viele Burritos und Tacos drin verschwunden – Cuauhtemoc Blanco aus Mexiko gehört mit 37 zu den Oldies.
Aber er ist ein Goldie: Schießt in der 79. Minute den Franzosen einen Elfer rein mit sehr viel Anlauf. Cuauhtemoc (benannt nach einem Aztekenkönig) hält kraft seiner Coolness die Mexikaner zusammen. Heute geht's gegen Argentinien, Blanco sagt: „Argentinien ist für uns kein Problem.“ Man glaubt es ihm. Fast. Katharina Rieger
...Down Under
Das Schöne an der WM ist ja, dass man feststellt, dass auch auf anderen Kontinenten Fußball gespielt wird. Mich haben die Kicker aus Australien und Neuseeland mehr beeindruckt als die Teams aus Asien und Afrika.
Erst bauen die „Socceroos“ die deutsche Elf auf, dann blamieren sie die Ghanaer. Und die „Kiwis“ lassen die Italiener noch älter aussehen als sie eh schon sind. Deswegen, aber nicht nur deswegen, drücke ich den Aussies gegen Serbien die Daumen. Georg Thanscheidt
...Schönlinge
Er lässt sich jedes Körperhaar entfernen. Er ist zuhause so gestylt, dass jede Sekunde die Vogue für ein Fotoshooting vorbeikommen könnte.
Im Zweitberuf ist Cristiano Ronaldo Schönling. Typen wie er, ich sage nur Alberto „Schlafzimmerblick“ Gilardino oder Yoann „Bankdrücker“ Gourcuff, sind nicht der einzige Grund, warum ich zur WM einschalte. Aber mit Sicherheit der schönste. Verena Duregger
...Ausgeschiedene
Für diese Pechvögel war die WM leider vor dem ersten Anpfiff vorbei. Wie schön wäre es gewesen, beim Spiel England – Algerien zu wissen: Es gibt etwas zu lästern, weil David Beckham spielt.
Und bei den Deutschen: Michael Ballack, der altgediente Kapitän, der es verkraftet, als Buhmann hingestellt zu werden, fehlt. Und René Adler. Kein Wortspiel à la: Er fliegt dem Ball wie ein Adler entgegen. Eine Gedenkminute bitte. Anne Katrin Koophamel
...Afrika
Irgendjemand muss hier ja politisch korrekt sein, oder? Im Ernst: Die Afrikaner sind Gastgeber und deshalb wünsche ich ihnen, dass es zumindest ein Team ins Achtelfinale schafft.
Die WM 2006 wäre nie zum Sommermärchen geworden, wenn Deutschland sich gleich verabschiedet hätte. Und außerdem hat Afrika in Didier Drogba einen Ausnahmestürmer, der mit gebrochenem Ellbogen besser trifft (und dabei auch noch besser aussieht) als so mancher Europäer – oder, Mister Rooney? Natalie Kettinger