Wikipedia wird 10 Jahre alt: Die Besserwisser
Der digitale Totengräber des Lexikons: Wer etwas wissen will, schaut heutzutage online nach. Doch unter den Autoren der globalen, scheinbar neutralen Datenbank toben Grabenkämpfe.
Wer nach Wikileaks googelt, landet bei Wikipedia. Der Artikel über die Whistleblower-Plattform war 2010 der meistgelesene des Internet-Lexikons. Während Wikileaks-Gründer Julian Assange oft als einer der einflussreichsten Männer der Welt gilt, sind es in Wirklichkeit andere, die entscheiden, was die Menschen über Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Iran oder Atomkraft erfahren. Nämlich die hundertausenden freiwilligen und meist anonymen Mitarbeiter, die seit genau zehn Jahren die Artikel in der Online-Enzyklopädie verfassen.
Wikipedia ist eine Macht, die das klassische Lexikon alt aussehen lässt, die auch deshalb so groß ist, weil sie so unideologisch scheint. Ein Irrtum.
Millionen von Gelegenheitsnutzern, zu denen eine ganze Generation Schüler und Studenten zählt, ahnen meist nicht, welche weltanschaulichen Grabenkämpfe sich hinter der neutralen Fassade abspielen. Die kreisen um weltbewegende Themen, aber auch um lokale Ereignisse und Größen, wie die AZ zeigt.
Timo Lokoschat
„Wrzlprmft“ oder „Wrdlbrmpfd“?
Karl Valentin, die Haarfarbe des Papstes und andere bayerische Streitfragen
KÖNIG LUDWIG II Hier befehden sich seit Jahren die Hobby-Historiker. War es Selbstmord, war es Mord? Königstreue löschen zudem immer wieder jeden Hinweis auf die angebliche Homosexualität des Monarchen. „Ist schon hart für einige, dass Neuschwanstein von einem schwulen Mann erbaut wurde und dort jedes Jahr tausende von Touristen hinströmen“, kommentiert dies ein User.
HORST SEEHOFER Beim bayerischen Ministerpräsidenten kreist die Debatte häufiger darum, inwieweit seine familiäre Situation „eine enzyklopädische Relevanz“ besitzt. Bei Redaktionsschluss heißt es dazu lediglich, dass er „eine weitere, nichteheliche Tochter“ habe. „Das verstehe ich nicht, zumal Seehofer sein Privatleben mehrfach öffentlich gemacht hat und zu seinen Gunsten nutzen wollte“, argumentiert Benutzer „Siebenstein83“. Neulich schrieb ein User in den Artikel, dass Seehofer ein „Mathevollpfosten“ sei. Die Behauptung hielt gerade einmal fünf Minuten.
FRAUENKIRCHE Am 1. März 2004 hat ein Benutzer namens „Softeis“ den Artikel angelegt – seitdem wächst und wächst er. Aber sind die Frauentürme eigentlich gleich hoch? Auf der Internetseite „münchen.sehenswürdigkeiten.info heißt es, sie seien „beide fast 100 Meter hoch“. Bei Wikipedia misst der südliche 98,45 Meter und der nördliche 98,75 Meter (Stand Freitag 14.30 Uhr).
SEBASTIAN FRANKENBERGER Kaum ein Bayer hat im vergangenen Jahr die Gemüter so erhitzt wie der Initiator des Nichtraucherbegehrens. Das schlägt sich natürlich auch in der Wikipedia nieder. „Sebastian Frankenberger ist ein profilisierungsüchtiger deutscher Politiker“ war zum Beispiel 2010 kurzzeitig in dem Internet-Lexikon zu lesen. Und: „Beide Studiengänge beendete der Versager jeweils ohne Abschluss.“
ISAR 2 Ein Dauerbrenner im Autorenstreit in der Wikipedia ist das Atomkraftwerk bei Landshut. Manche Mitarbeiter stören sich an einer Bemerkung über die hohe Produktivität des Reaktors: „Achtmaliger Weltmeister? Es gibt keine Weltmeisterschaft der Atomkraftwerke, außer vielleicht im Kopf des Autors“, schreibt ein Benutzer, der sich „Transparent“ nennt. „Es gibt übrigens auch keine Weltmeisterschaft der Störfälle.“
STÄDTISCHES STADION AN DER GRÜNWALDER STRASSE Auch auf Wikipedia gibt es um das ehemalige Stadion des TSV 1860 München viel Zirkus. Einmal zum Beispiel um eine Urheberrechtsverletzung: Ein langer Absatz war einfach 1:1 von der Internetseite sechzger.de übernommen worden. Dissens herrscht auch über die Frage, ob der Spitzname „Hermann Gerland Kampfbahn“ in den Artikel gehört und ob man in dem Absatz über die Historie den FC Bayern oder 1860 zuerst nennen soll. „Meinetwegen einmal zuerst FCB und dann TSV, und an der nächsten Textstelle andersherum“, salomonisiert ein User vor sich hin. Oh mei, wie im echten Leben halt.
KARL-THEODOR ZU GUTTENBERG Am 8. Februar 2009 um 22.40 Uhr erlaubte sich ein anonymer User einen Scherz: Zu den ohnehin nicht wenigen Vornamen des Freiherrn fügte er einen elften hinzu. Wilhelm! Prompt fielen Dutzende Medien darauf herein. Heute wird unter anderem darüber gestritten, wie viele Fotos im Artikel stehen sollen: „Ich denke, man muss den guten Mann nicht von vorne, von links und nochmal von rechts abbilden“, moniert ein Schreiber. Bei Ronald Pofalla gebe auch auch nur ein Bild.
KARL VALENTIN Dass der Münchner Satiriker in Jamaika geboren wurde, blieb 2007 nur für eine Minute stehen – bis es korrigiert wurde. Schwieriger sieht es da schon bei der NS-Vergangenheit des Künstlers aus. Amüsanter ist die Debatte um eine seiner Wortschöpfungen: Lautet sie „Wrzlprmft“ oder „Wrdlbrmpfd“?
BENEDIKT XVI. Selbst der Heilige Vater ist nicht sakrosankt und wird in der Wikipedia zum Gegenstand wütender Editier-Kriege, in denen mal die eine, mal die andere Version die Oberhand behält. Dabei geht es um die päpstliche Haltung zum Kondomgebrauch, Freimaurerei und den Ausdruck „Gottes Rottweiler“, den manche gerne in der Enzyklopädie lesen würden. Auch seine Haarfarbe wird begutachtet: „Der hatte schon immer graue Haare“, schreibt User „SaintLouis“. „Hier steht etwas von blond“, kontert „Bhuck“ und verweist auf einen „Spiegel“-Artikel. „Später ist er wohl nachgedunkelt“, ergänzt „Dagobert Drache“. Halleluja.