Wie gefährlich ist die Schweinegrippe: Tiger oder Kätzchen?

Selbst Fachleute rätseln, wie gefährlich die Schweinegrippe und die Impfung wirklich sind. Die Bundesregierung wird heftig kritisiert und die Pharmaindustrie freut sich. Die AZ beantwortet die wichtigsten Fragen.
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Den Impfstoff Pandemrix haben Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihre Länderkollegen für Deutschland ausgesucht. Jetzt kritisieren immer mehr Experten das Mittel.
dpa Den Impfstoff Pandemrix haben Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihre Länderkollegen für Deutschland ausgesucht. Jetzt kritisieren immer mehr Experten das Mittel.

Selbst Fachleute rätseln, wie gefährlich die Schweinegrippe und die Impfung wirklich sind. Die Bundesregierung wird heftig kritisiert und die Pharmaindustrie freut sich. Die AZ beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wie stark ist die Schweinegrippe verbreitet? Laut dem Robert-Koch-Institut wurden insgesamt bis zum 6. Oktober 21603 Fälle gemeldet. Das Landesamt für Gesundheit in Bayern zählt aktuell 4134 Fälle. Wegen der weltweit starken Verbreitung wurde die Schweinegrippe als Pandemie eingestuft. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) weist daraufhin, dass man im Herbst mit einem stärkeren Anstieg rechne. Nach einem Rückgang steigt die Zahl der Fälle seit Mitte September wieder an, was das Landesamt für Gesundheit auf das Ende der Ferien- und Urlaubszeit zurückführt. Erhoben werden aber nur die Fälle, die überhaupt auf den neuen H1N1 untersucht wurden. „Viele merken gar nicht, dass sie eine Schweinegrippe haben. Sie haben Grippesymptome, leichter als bei einer echten Influenza und gehen vielleicht gar nicht zum Arzt“, sagt Nikolaus Frühwein, Präsident der bayerischen Gesellschaft für Impfwesen. Der Hausarzt entscheidet, ob er auf den Virus untersuchen lässt, die Kasse zahlt.

Wie gefährlich ist die Schweinegrippe? Offenbar weniger gefährlich, als man zunächst angenommen hat. Bisher verlaufen die meisten Erkrankungen milde: Zwei, drei Tage Fieber. „Man hat sich sozusagen auf einen Tiger vorbereitet, aus dem Urwald kam aber nur ein Kätzchen“, sagt der Virologe Alexander Kekulé von der Universität Halle. Dennoch, so der Experte, verlaufe bei einem bis fünf von 10000 Erkrankten die Grippe schwerer. Außerdem könnte sich der Virus verändern. Das RKI warnt: „ Wenige Mutationen, die bei diesem Virus leicht möglich sein, können mit einer Zunahme des Anteils schwerer Verläufe führen.“ Vorhersehbar sei das aber nicht.

Wer gehört zu den Risikogruppen? Laut RKI kann die Grippe gefährlicher sein für Menschen mit Vorerkrankungen wie chronische Erkrankungen der Atemwege, chronische Herz-Kreislauf-, Leber- und Nierenkrankheiten, Malignome, Diabetes und andere Stoffwechselerkrankungen oder eine HIV-Infektion. Auch bei stark übergewichtigen Personen und Schwangeren können durch den Ausbruch der Krankheit gefährliche Komplikationen auftreten.

Wer waren die Todesopfer? Weltweit spricht die WHO derzeit von 4525 Todesopfern. In Deutschland starb eine Frau in Essen, sie gehörte allerdings zu einer Risikogruppe: Sie wog 180 Kilo und hatte auch noch andere Infektionen. Ein fünfjähriger Bub starb in einem Münchner Krankenhaus an einer Lungenentzündung. Auch er hatte sich schon als schon krank, bevor er sich mit dem H1N1-Virus infizierte.

Wann kommt eine Impfstoff? Die Bundesregierung visiert die ersten Impfungen für den 26. Oktober an. Bis dahin sollen 2,4 Millionen Millionen Impfstoffdosen zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung hat vorerst für 600 Millionen Euro den Impfstoff Pandemrix von der britischen Firma GlaxoSmithKline (GSK) bestellt. Insgesamt wird die geplante Massenimpfung rund eine Milliarde Euro kosten – das Geld für das Grippemittel Tamiflu nicht eingerechnet.

Wer empfiehlt die Impfung? Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat vergangene Woche eine Impfung empfohlen: zunächst für Beschäftige im Gesundheitswesen und Menschen ab sechs Monaten, die zu den genannten Risikogruppen gehören – allerdings verweist die Kommission besonders für chronisch Kranke und Kinder auf eine „Nutzen-Risiko-Abwägung“. Schwangeren empfiehlt die Kommission einen anderen Impfstoff, als den, den die Länder geordert hat.

Warum ist die Impfung so umstritten? Unter Experten umstritten sind Wirkungsverstärker, sogenannte Adjuvanzien, die manchen Impfstoffen beigemischt werden. Diese Adjuvanzien „verstärken nicht nur die Wirkungen, sondern gegebenenfalls auch unerwünschte überschießende Immunreaktionen“, heißt es im dem Magazin „Arznei-Telegramm“, das ohne Gelder der Pharmaindustrie hergestellt wird. Kritiker befürchten nicht nur Nebenwirkungen wie Schwellungen, Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen, sondern auch, dass dadurch Autoimmunerkrankungen angeschoben werden können. Dabei arbeitet das Immunsystem gegen den eigenen Körper. Außerdem gibt es bei Schwangeren und kleinen Kindern keine Erfahrungen mit „adjuvantierten“ Impfstoffen. In den USA lehnt man solche Zusätze ab, dort gibt es einen Schweinegrippe-Impfstoff, der nicht adjuvantiert ist.

Welche Impfstoffe gibt es derzeit? In der EU sind drei Mittel zugelassen: Pandemrix vom britischen Hersteller GlaxoSmithKline (GSK), Focetria vom Schweizer Pharmaunternehmen Novartis sowie Celvapan des US-Pharma-Herstellers Baxter. Pandemrix und Focetria sind adjuvantiert, also mit einem Wirkungsverstärker versehen.

Wie gefährlich sind solche Impfungen? Auch das ist umstritten. Ein Problem ist, dass es keine Erfahrung mit solchen Impfstoffen bei Schwangeren gibt. Deswegen empfiehlt die Impfkommission Schwangeren einen „nicht adjuvantierten“ Impfstoff – den es allerdings derzeit in Europa nicht gibt. Der Präsident des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte fordert für Kinder einen Impfstoff ohne Zusätze. „Es gibt keine Studien, die die Gefährlichkeit von Adjuvanzien zeigen“, sagt dagegen Frank von Sonnenburg, stellvertretender Leiter der Infektions- und Tropenmedizin an der LMU. Er testet derzeit Schweinegrippe-Impfstoff Focetria der Firma Novartis. „Der enthält den immunverstärker MF59, der schon 45 Millionen Mal in anderen Impfstoffen zum Einsatz kam.“ Die Bundesregierung aber hat sich aber für Pandemrix von der Firma GSK entschieden – und wird dafür nun heftig kritisiert.

Hat die Regierung den falschen Impfstoff gekauft? Der Eindruck entstand unter anderem, als die Bundeswehr bekannt gab, ihre Soldaten mit Celvapan zu impfen, einem nicht-adjuvantiven Impfstoff. Gestern beeilte sich die Regierung mitzuteilen, dass es keine Qualitätsunterschiede zwischen den Impfstoffen gebe.

Die Experten vom „Arznei-Telegramm“ sehen das anders. Demnach enthält Pandemrix das Adjuvans AS03. „Das ist eine Wirkverstärkermischung, die noch nie zuvor ein einem handelsüblichen Impfstoff verwendet worden ist“: heißt es da. „Das Risiko seltener schwerer Schadwirkungen ist nicht hinreichend geklärt.“ Eine solche Wirkung könnte demnach das – sehr seltene – Guillain-Barré-Syndrom sein, dass zu Atemlähmungen führt. Das Gesundheitsministerium habe sich bei der Auswahl des Impfstoffes unter Druck setzen lassen, urteilen die pharma-unabhängigen Experten das Fachblattes und zitieren aus einem Schreiben der Firma GSK: „Angesichts der weltweit großen Nachfrage bitten wir Sie, uns die vertraglich fixierten Bestellungen unverzüglich verbindlich zu bestätigen.“

Der Virologe Alexander Kekulé warf der Bundesregierung eine „grobe Fehlentscheidung“ vor. Theodor Windhorst, Vorstand der Bundesärztekammer sagte, ihm sei „Pandemrix" mit zu vielen Risiken behaftet.

Tina Angerer

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