„Wenigstens gehasst werden“

WINNENDEN - Wie ticken Amokläufer? Ein Experte über das innere Drehbuch solcher Extrem-Täter - und wie man mögliche Vorzeichen erkennen kann
AZ: Herr Lüdke, war der Auslöser zu diesem Amoklauf die Tat gestern früh in Alabama?
CHRISTIAN LÜDKE: Nein, das kann man ausschließen. Das war keine Affekttat und keine Nachahmung. Der Täter aus Winnenden hat seine Tat lange geplant. Man muss viel planen, wenn man seinen eigenen Selbstmord, bei dem möglichst viele Menschen sterben sollen, mit einem solchen Showdown inszenieren will.
Es gab ein inneres Drehbuch?
Sicher. Das hat er über lange Zeit durchgespielt. Er musste eine Waffe besorgen, planen, wo er zuerst hinfährt, wen er tötet. Ähnlich wie damals in Freising und Erfurt. Da haben die Täter ganz gezielt nach ihren Opfern gesucht.
Wie muss man sich den inneren Zustand des Täters vorstellen?
Er hat über einen langen Zeitraum Kränkungen erlebt, auch Beziehungsstörungen. In ihm hat sich Wut angestaut, die sich über Jahre aufgebaut hat – weil er versagt hat, in der Schule, vor seinen Eltern, in der Gesellschaft. Jetzt fühlt er: Wenn ich nicht geliebt werde, will ich wenigstens gehasst werden.
Wie erkennt man Vorzeichen einer solchen Bluttat?
Die Menschen zeigen sonderbare Verhaltensänderungen. Plötzlich kleiden sich sich anders, erzählen von Waffen und vom Töten, haben einen übersteigerten Hang zu martialischen Spielen und Gewaltphantasien. Sie äußern Hass auf die Gesellschaft. Sie drohen ihre Tat meistens an.
Was kann man tun, wenn ein Mensch einen Amoklauf ankündigt?
Immer ernst nehmen! Diesen Menschen ansprechen, Wertschätzung zeigen, Hilfe anbieten und Vertrauenspersonen einbeziehen. Wir müssen Mitschüler ermutigen, den Eltern oder Schulleitern solche Beobachtungen mitzuteilen.
Die Kinder, die diese Tat miterleben mussten – wie werden sie jetzt reagieren? Wie gehen sie damit um?
Es wäre ganz normal, wenn sie drei Monate lang Schlafstörungen haben, nicht mehr in die Schule wollen, vielleicht apathisch und aggressiv sind, sich womöglich schuldig fühlen, weil sie glauben, sie hätten irgend etwas verhindern können. Manche schalten ihre Gefühle ganz ab, agieren wie auf Autopilot.
Kann ein lebenslanges Trauma bleiben?
Nach allen Erfahrungen bleibt ein lebenslanges Kopfkino bei sieben bis zehn Prozent. Die anderen erholen sich in der Regel schon bald.
Was kann ihnen jetzt helfen?
Sie müssen schnell weg vom Ort des Geschehens und brauchen ein paar Tage völlige Ruhe. Man sollte sie nicht mit dem Ereignis konfrontieren, keine Fragen stellen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf andere, schöne Dinge umlagern. Und man sollte die Schule schließen, sie ist ein Tatort und keine Schule mehr. Ab Montag wäre es gut, die Kinder an einem anderen Ort zu unterrichten. Wichtig ist, dass sie stabile Persönlichkeiten haben, die ihnen Hoffnung und Zuversicht vermitteln und keine Vorwürfe machen.
Gibt es irgendeinen Trost für die Eltern der toten Kinder?
Nein. Sie werden untröstlich sein für den Rest ihres Lebens, ihr Leben wird nie wieder sein wie zuvor. Man kann nur ihre Trauerarbeit begleiten, die Trauer mit ihnen aushalten, bei ihnen sein.
Int.: iko