Weihnachten mit der Familie: Was tun, wenn ein Querdenker am Tisch sitzt?

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Womöglich wird es dieses Jahr unter manchem Weihnachtsbaum so unfriedlich zugehen, dass der zynische Gedanken aufkommen könnte, die Zahl der erlaubten Kontakte sei vielleicht doch zu groß gewesen. Der Streit um die Flüchtlingspolitik, der 2015 und 2016 den Weihnachtsfrieden gefährdete, ließ sich mit gutem Willen und ebensolchem Essen vielleicht noch umschiffen.
Dieses Jahr sitzt das Konfliktthema aber bereits am Tisch, noch bevor die ungelenke Coronabegrüßung überstanden und das erste Weihnachtsgeschenk geöffnet ist. Wer wird eingeladen, wer kann kommen? Wen dürfen (und wollen wir) besuchen, und wie viele Tage vor dem Fest müssen die Kinder aus Rücksicht auf den Opa oder die Großtante eigentlich darauf verzichten, ihre Freunde zu treffen?

Bei gesellschaftlichen Debatten nicht auf Harmonie hoffen
Natürlich: Auch unter normalen Bedingungen verlaufen Familienfeiern selten so harmonisch, wie uns das guttäte. Ganz anders in der politischen und gesellschaftlichen Debatte: Hier sollten wir nicht auf Harmonie hoffen, sondern müssen wissen, dass der Meinungsstreit und die Auseinandersetzung zur Demokratie dazu gehören. Nur in autokratischen Systemen wird nicht gestritten und um die politische Macht gerungen - da sitzen die Opponenten entweder im Gefängnis oder werden anderweitig mundtot gemacht.
Jedoch kann man den politischen Streit bejahen und dennoch angesichts der Art und Weise, wie und worüber in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland gestritten wird, erschrocken zusammenzucken. Es scheint immer mehr politische Themen zu geben, bei denen der Streit schnell unversöhnlich und die Tonlage aggressiv wird. Was während der so genannten Flüchtlingskrise die Debatte über Aufnahmekapazitäten, rechtliche Verpflichtungen der Aufnahmestaaten sowie die Motive von Asylbewerbern war, sind während der Corona-Pandemie die Infektionszahlen und die Sterberaten.
Es melden sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger lautstark zu Wort, die sich nicht nur über die ökonomischen Folgen der Pandemie berechtigte Sorgen machen, sondern eine zu weitreichende Einschränkung von Freiheitsrechten beklagen. Derartige Kritik bringen keineswegs nur selbsternannte "Querdenker" vor. Im Gegenteil: Auch Verfassungsrechtler kritisieren, dass mancher Politiker ebenso folgenschwer wie juristisch unzutreffend das Recht auf Leben zum "Supergrundrecht" erkoren hat. Und auch sie geben zu bedenken, dass sich der Bundestag nicht durch eine Blankoermächtigung an die Regierung seiner Verantwortung für die Gesetzgebung entledigen darf.
Bauchgefühl, Schulmathematik, und YouTube-Wissen
Während sachliche Kritik an den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung oder an der Neufassung des Bundesinfektionsschutzgesetzes also berechtigt und geradezu unabdingbar erscheint - natürlich nicht nur, wenn sie von Verfassungsrechtlern kommt -, beobachten wir noch ein ganz anderes Phänomen. Freunde oder Familienmitglieder, die die Haltung von Heimwerkern an den Tag legen: Im Austausch mit Gleichgesinnten bauen sie sich alternative Wissens- und Wirklichkeitskonstrukte zusammen und präsentieren stolz das Selbstgemachte. Ihre Intuition, dass in "den" Medien womöglich falsch berichtet werde und an den politischen Maßnahmen etwas "faul" sei, begründen sie mit "kritischem" Wissen, das sie "im Netz" recherchiert hätten.
Den empirisch unterfütterten Argumenten aus der Wissenschaft, die für Laien nur bedingt nachvollziehbar und schon gar nicht überprüfbar sind, setzen sie nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch am weihnachtlichen Kaffeetisch ihr Bauchgefühl, Schulmathematik, YouTube-Wissen und Empörung entgegen. Hier entlädt sich eine selbstermächtigende Freude am Gegenwissen, an der Rolle des eigentlichen Experten, die wiederum diejenigen, die der Funktionsweise sowohl des Wissenschaftssystems als auch unseres politischen Systems grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen, zur schieren Verzweiflung treibt.
In unseren modernen westlichen Gesellschaften geht Politik zwangsläufig mit Ausdifferenzierung und (sozialen) Unterschieden einher. Doch nicht diese lösen eine Spaltung aus. Es verhält sich - auch wenn diese Erkenntnis auf den ersten Blick irritierend erscheinen mag - genau anders herum: Je weniger Unterscheidbarkeiten es gibt und je mehr sich eine Gesellschaft immer wieder in die gleichen Teile trennt, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir uns tatsächlich in unversöhnliche Lager spalten.
Wenn sich an die gleichen Merkmale und Interessenlagen von Menschen immer dieselben politischen Gegensätze anschließen, sich also politische Orientierungen und Vorlieben mit dem Wohnort, dem Grad der formalen Bildung, dem sozialem Status oder Geschlecht verknüpfen, dann tritt eine Form der politischen "Versäulung" ein, die Polarisierung begünstigt. Nicht nur im Umfeld der US-amerikanischen Wahlen, sondern auch in Deutschland - wenn auch in einer durch unser Wahlsystem und den Sozialstaat abgeschwächten Form - lässt sich etwas beobachten, was Anlass zur Besorgnis gibt: Nämlich was passieren kann, wenn einen nennenswerten Teil der Bevölkerung die Sorge um- und womöglich auch antreibt, durch die großen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft ohnmächtig an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Unterschiedliche politische Lager schaukeln sich gegenseitig hoch
Dieser Teil der Bevölkerung ist für die Forderung nach mehr kultureller Homogenität, dem Fernhalten "der Anderen", aber auch der populistisch unterfütterten Warnung vor einem angeblichen "faschistoid-hysterischen Hygienestaat" anscheinend leichter empfänglich als die Modernisierungsbegünstigten. Letztere können sich von der Globalisierung und der Digitalisierung persönliche Vorteile erhoffen und haben häufig das Glück, auch den aktuellen "Teil-Lockdown" im Home-Office aussitzen zu können. Und während dem einen Teil der Bevölkerung zentrale Ausprägungen der gesellschaftlichen Modernisierung, wie Antidiskriminierung, Diversität, Gleichstellung, Inklusion und der Versuch, möglichst klimaneutral zu leben, als unverzichtbar gelten, stößt diese Prioritätensetzung beim anderen Teil nur auf Hohn.
Politische Polarisierung bedeutet, dass zwei gegensätzliche Lager sich in der Radikalität ihrer politischen Positionen wechselseitig "aufschaukeln" und dieser Prozess durch die Funktionsweise der digitalen Plattformen und der sogenannten "sozialen Medien" vorangetrieben wird.
Die einen hetzen gegen das angebliche "links-rot-grün-versiffte" Meinungsmonopol und zündeln durch die sinnfreie und geschichtsvergessene Gleichsetzung der aktuellen Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit der totalitären NS-Herrschaft am demokratischen Grundkonsens. Die anderen schwingen in Reaktion auch auf weniger extreme Fehlgriffe am liebsten die "Nazi-raus"-Keule": Je rassistischer und illiberaler die einen, desto mehr beharren die anderen darauf, dass auch die kleinste gesellschaftliche Minderheit Berücksichtigung findet.
"Abwägende Zurückhaltung" kann deeskalierend wirken
Diese durchaus verständliche Gegenreaktion birgt die Gefahr, dass man sich selbst und seine eigene Position von der Radikalität des politischen Gegenübers abhängig macht. Angemessener wäre es, die eigene politische Überzeugung beizubehalten und sich nicht in die Eskalation hineintreiben zu lassen.
Was zeichnete eigentlich die Phasen aus, in der wir keine Spaltung der Gesellschaft beklagen mussten, in denen die meisten von uns den gesellschaftlichen Frieden also gewahrt sahen? Zwei amerikanische Politikwissenschaftler machen darauf aufmerksam, dass solche Zeiten (die durchaus auch wieder kommen können) von folgenden Verhaltensweisen geprägt waren: Verfahrensregeln wurden nicht bis zur Grenze ausgereizt, politische Attacken fielen weniger hart aus als sie unter juristischen Gesichtspunkten hätten sein dürfen und die betroffenen Gruppen beharrten nicht nur auf ihre eigenen Rechte.
Eine derartige "abwägende Zurückhaltung" macht nicht nur Familienfeste erträglicher, sondern deeskaliert und wirkt den sich verstärkenden gesellschaftlichen Radikalisierungsprozessen entgegen.
Regeln für bessere Debatten: Die Erfolglosigkeit einplanen
Ein paar Grundregeln, die einem helfen können, den unerquicklichen Weihnachtsstreit über die richtige Deutung von Infektions- und Sterbezahlen sowie die Angemessenheit der Coronamaßnahmen zu vermeiden.
- Spott und Rechthaberei vermeiden: Das aggressive Zerlegen oder Verspotten eines Verschwörungsmythos sowie das Fokussieren auf das "Gewinnen" einer Diskussion, verstärkt die Gefahr reflexartiger Ablehnung.
- Gezieltes (Nach-)Fragen "Woher weißt Du das?"; "Warum glaubst Du, dass Deine Quelle seriös ist?"; "Wie funktioniert das Deiner Meinung nach?"
- Konsequent beim Thema bleiben: Verschwörungsgläubige neigen auch unterm Weihnachtsbaum dazu, von einem Punkt zum nächsten zu springen.
- Weihnachtliches Einfühlungsvermögen zeigen: Es hat sich bewährt, nach gemeinsamen Ansatzpunkten zu suchen, und es ist sinnvoll sich zu bemühen, die Bedürfnisse des Gesprächspartners zu erkennen: Welchen "Sinn" und "Nutzen" erfüllt der Verschwörungsmythos für Onkel Peter oder Tante Julia?
- Den Ausstieg aus dem Streit einplanen: Die Abkehr von Verschwörungsmythen ist ein mühsamer und für die Betroffenen schmerzhafter Prozess. Schließlich kommt der Überzeugung auch Bedeutung für das eigene Leben bei.
Es empfiehlt sich also, die Erfolglosigkeit eines Gesprächs einzukalkulieren und – wenn gar nichts mehr hilft – vielleicht doch lieber zu einem Feiertagsspaziergang aufzubrechen.