Wegen Sex-Lüge: Kollege unschuldig im Knast

Sie spricht von der Vergewaltigung, als sei sie gestern erst passiert. Doch ihre Geschichte ist an den Haaren herbeigezogen. Weil ihr mutmaßlicher Peiniger jahrelang unschuldig im Gefängnis saß, steht sie jetzt selbst vor Gericht.
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Der 48-Jährigen Frau, die mit einer Falschaussage einen früheren Kollegen für fünf Jahre hinter Gitter gebracht hat, wird Freiheitsberaubung vorgeworfen.
dpa Der 48-Jährigen Frau, die mit einer Falschaussage einen früheren Kollegen für fünf Jahre hinter Gitter gebracht hat, wird Freiheitsberaubung vorgeworfen.

Sie spricht von der Vergewaltigung, als sei sie gestern erst passiert. Doch ihre Geschichte ist an den Haaren herbeigezogen. Weil ihr mutmaßlicher Peiniger jahrelang unschuldig im Gefängnis saß, steht sie jetzt selbst vor Gericht.

Darmstadt – Kann man sich eine Tat bis ins letzte Detail einbilden, obwohl sie sich nie zugetragen hat? Möglich scheint es, zumindest wenn man der Frau zuhört, die sich im Darmstädter Landgericht mit tränenerstickter Stimme an die Vergewaltigung durch einen Lehrerkollegen erinnert. Aber die Sache hat einen Haken: Die Frau auf der Anklagebank im überfüllten Gerichtssaal hat ihre Geschichte nachweislich frei erfunden, wie ein Kasseler Gericht bereits festgestellt hat.

Dort war Horst Arnold, der angebliche Peiniger der Frau, vor zwei Jahren freigesprochen worden. Allerdings erst, nachdem er die volle Haftstrafe von fünf Jahren abgesessen hatte. Später stirbt er an einem Herzversagen. Sein Fall ist einer der größten Justizirrtümer der deutschen Rechtsgeschichte.

Die Hände der 48-Jährigen zittern leicht, die Stimme erstickt immer wieder in Tränen, als sie in ihrer langen Aussage auf den Tag im August 2001 zu sprechen kommt, an dem „die Sache, die Tat“ geschehen sein soll, wie sie behauptet. In einem Vorbereitungsraum der Schule in Reichelsheim (Odenwaldkreis) soll sich Arnold an ihr vergangen haben, die Frau erinnert sich an jedes Detail, an seine Jogginghose, die Brutalität und die Drohungen des Biologielehrers, an seinen Alkoholgeruch, als er ihren Wickelrock zur Seite geschoben und sich an ihr vergangen haben soll.

Behutsam tastet sich die Vorsitzende Richterin an die Frau und ihre vermeintlichen Erinnerungen heran. Kann das alles so passiert sein? „Die Tat habe ich sehr präsent im Gedächtnis“, behauptet die Angeklagte. Bei anderen Fragen zu den drei gescheiterten Ehen, den ungezählten Therapien und Schulwechseln geht es ihr nicht so: zeitliche Abläufe, Namen, Details – Etliches scheint für die Frau nicht mehr greifbar.

„Das kann so gewesen sein“, „das ist möglich“, antwortet sie oft auf Fragen der Richterin. Nein, ist es nicht, sagt die Staatsanwaltschaft. „Wir gehen davon aus, dass die ganze Geschichte frei erfunden ist“, wirft ihr die Staatsanwältin vor. Das Motiv: die eigene Karriere. Die Frau könnte es auf den Posten des Biologielehrers abgesehen haben. Das hatte auch bereits das Kasseler Landgericht bei seinem Freispruch für den Lehrer im Wiederaufnahmeverfahren 2011 so gesehen und die Geschichte als „von vorn bis hinten erfunden“ bezeichnet.

Die Lehrerin sei in der Lage, „die aberwitzigsten Geschichten zu erfinden“. So habe die gebürtige Sauerländerin nach der vermeintlichen Tat zum Beispiel von einer Tochter erzählt, die sie nicht hat – oder behauptet, ihren angeblich im Koma liegenden Freund zu betreuen, um eine Versetzung zu erreichen.

Die besondere Tragik des Falls: Horst Arnold hatte auch nach seiner Verurteilung 2002 zu fünf Jahren Haft stets seine Unschuld beteuert, nur ein Jahr nach seinem Freispruch 2011 starb er im Saarland an einem Herzinfarkt – genau an dem Tag, an dem Ermittlungen gegen die jetzt angeklagte Frau abgeschlossen wurden. „Mein Bruder ist an der ganzen Geschichte kaputt gegangen“, sagt Steffen Arnold am Rande der Verhandlung. Er ist verbittert: „Bis heute hat sich niemand bei uns für diesen Skandal entschuldigt.“

Glaubt die angeklagte und derzeit suspendierte Lehrerin denn selbst an ihre Geschichte? „Das kann gut sein“, sagt Heike Winter von der Psychotherapeutenkammer Hessen. Litten Menschen zum Beispiel unter dem Münchhausen-Syndrom, erfänden sie Geschichten und klängen dabei sehr glaubhaft, bis jemandem die ersten Zweifel kommen. „Man erfindet und erzählt, um sich selbst aufzuwerten und Anerkennung zu bekommen“, sagt Winter.

Wegen Freiheitsberaubung droht der Lehrerin eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren.

 

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