Warum Millionen die Wahrnehmung trüben

Geiz allein ist es nicht, Gier auch nicht. Eigennutz treibt Karrieremenschen, sich die Welt nach ihren Regeln zu gestalten. Da bleibt die Moral schnell auf der Strecke.
«Sittenverfall» und «Raffgier-Mentalität», tobte die deutsche Polit-Elite, als die Steuerfahnder auf der Suche nach Beweisen für Steuerhinterziehung die Schränke von Postchef Zumwinkel durchwühlten. Es war die erste Erregung, die in den üblichen Wettbewerb der Ideen mündete, wie dem Hang der Oberschicht zur Steuerhinterziehung beizukommen sei. Denn Zumwinkel blieb nicht der einzige Spitzenverdiener, der dieser Tage Besuch vom Finanzamt bekam. Wie zu hören ist, treibt die Furcht vor dem Knast Scharen von Reichen in die Finanzbehörden, die strafmildernde Selbstanzeige in der Hand.
Unabhängig davon, was nach Ende der Ermittlungen bleibt: Wie kommt es, dass Menschen, die sich wahrlich keine Sorgen über ihr Auskommen machen müssen, Steuern hinterziehen, statt sie zu zahlen? Ist es Gier? Ist es Geiz? Wie entrückt man so stark der Lebenswelt? Klar ist, dass die verschiedenen Schichten und Milieus gezwungenermaßen verschieden mit Geld umgehen. Wer von Arbeitslosengeld II lebt, spart nichts. Wer einen Beruf ausübt oder als Akademiker einen festen Job erhielt, bringt es aus eigener Kraft zum eigenen Haus - mit Optionen auf Putzfrau, Landhaus und Segelyacht. Auch für die Altersvorsorge bleibt noch etwas übrig.
Machtfülle durch Geld
Dafür, dass all dies erarbeitet werden muss, verliert die Riege der Millionäre wie Zumwinkel und seine Verdienstgenossen den Blick. Denn sie werden nicht für ihrer Hände Schaffen, sondern für ihre Verantwortung honoriert. Die Lebenswirklichkeit anderer ist ihnen fremd. «Einer, der Millionen verdient, kann keine Empathie für den Hartz-IV-Empfänger entwickeln», sagt Biopsychologe Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin. Verantwortlich dafür ist die Machtfülle, die das viele Geld verleiht. Man darf nicht erwarten, dass eine vollkommene moralische Weltsicht diese Macht begrenzt. Es wäre die Ausnahme, wenn ein höchstmächtiger Spitzenfunktionär und -verdiener sich in christlicher Nächstenliebe dazu bekennt, dass er nur durch die Gesellschaft zu dem geworden ist, was er ist. Die ethische Marktwirtschaft ist eine Illusion.
So schön Karriere, beruflicher und sozialer Aufstieg sein mögen, so sehr also liegt darin auch das Problem: Der Mensch strebt danach, die Welt autonom so zu gestalten, dass sie sich seinen Wünschen fügt. «Eigennutz ist das Grundprinzip der Evolution», erläutert Biopsychologe Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin. Zwar hat sich im Zusammenleben der Menschen als günstig herausgestellt, wenn man sich soziale Verbündete sucht. Das Individuum aber koaliert aus purem Eigennutz. Mancher kommt dabei sehr weit, etwa durch Beziehungen oder durch seinen Intellekt. Mancher hat auch schnell sehr viel Macht. Das wird dann gefährlich.
«Wenn sich der Erfolg zu schnell einstellt und niemand Grenzen bietet, dann überbordet das Eigennutzdenken», beschreibt es Walschburger. «Der Mensch entwickelt individuelle Omnipotenzfantasien.» Realitätsverlust folgt, er verschließt die Augen vor dem Risiko, ertappt zu werden. Doch damit nicht genug: «Spitzenkräfte unterliegen leicht der Versuchung, Regeln aufzustellen, denen sie sich nicht selbst unterwerfen wollen. Sie beziehen sie nur auf andere», sagt der Psychologe. Das Resultat: Geld landet in Liechtenstein, statt beim Finanzamt.
Wie Donald Duck
Eine Reduktion des Problems allein auf einen Charakterzug wie Geiz schließt der Wissenschaftler aus. Denn darin steckt der Versuch, Wirklichkeit und Moral zu verbinden. Ein Irrtum. Denn unserer Gesellschaft fehlen verbindliche Wertvorstellungen, Moral und Wirklichkeit fallen so stark auseinander wie nie zuvor. Jeder kann das erleben: Der Clash der Kulturen prägt unsere Gegenwart. Zumindest in den Städten kann jeder nach seiner Façon selig werden. Neue europäische Lebensformen treffen auf eher mittelalterliche Abhängigkeitsverhältnisse der islamischen Kulturen. Institutionen wie die Kirche sind zu schwach, übergreifend und umfassend einheitliche Wertvorstellungen zu vermitteln. Orientierungslosigkeit greift um sich. Der Staat versagt, die Eliten halten still. «Man kann nicht erwarten, dass die Mächtigen auch noch die moralischen Führer sind», sagt Walschburger. Der Experte sieht noch ein weiteres Motiv bei den sündigen Vielverdienern: Menschen klammerten sich an das Geld, weil sie es liebgewönnen. Das ging auch Donald Duck so, der gern in Geld badete.
Tilman Steffen