Vor dem Mordprozess gegen Oscar Pistorius

  Live-Übertragung und Pistorius-Sender: Was passierte in der Nacht, als Oscar Pistorius Reeva Steenkamp erschoss? Am Montag beginnt der Prozess
von  Vanessa Assmann
Es geht um die tödlichen Schüsse auf Reeva Steenkamp am Valentinstag 2013. Sie starb in der Toilette, wo Pistorius nach eigener Aussage einen Einbrecher vermutete.
Es geht um die tödlichen Schüsse auf Reeva Steenkamp am Valentinstag 2013. Sie starb in der Toilette, wo Pistorius nach eigener Aussage einen Einbrecher vermutete. © dpa

 Live-Übertragung und Pistorius-Sender: Was passierte in der Nacht, als der „schnellste Mann ohne Beine“ Reeva Steenkamp erschoss? Am Montag beginnt der Prozess

PRETORIA Er wollte es verhindern: Doch wenn am Montag in Pretoria der Mordprozess gegen den südafrikanischen Sprintstar Oscar Pistorius beginnt, werden nicht nur die Besucher im Gerichtssaal daran teilhaben. Ob Fernsehen, Radio oder Internet – das Gericht hat weitreichende Live-Mitschnitte erlaubt. Ein Bezahlsender geht sogar mit einem 24-Stunden-Pistorius-Kanal ins Rennen.

 

Niemand soll verpassen, wie die Anklage dem 27-Jährigen den Mord an seiner schönen Freundin, Model und Moderatorin Reeva Steenkamp, am Valentinstag 2013 nachweisen will. So wie einst niemand seine Erfolge verpasste. 194 Tage vor diesem 14. Februar hatte Pistorius schon einmal die Menschen vor den Bildschirmen versammelt: Am 4. August 2012 schrieb er bei den Olympischen Spielen in London Geschichte – als erster behinderter Sportler, der im regulären Wettbewerb antrat.

Der Mann, den sie wegen seiner Karbon-Prothesen „Blade Runner“ nennen, der sich sechs Goldmedaillen bei den Paralympics erlief, ging auf die Strecke über 400 Meter. Und 80.000 Zuschauer jubelten. Er lief nicht Bestzeit. Aber es war der vielleicht größte Moment seiner Karriere.

Für viele war der Mann, dem als Kind beide Unterschenkel amputiert worden waren und der sich an die Sportspitze gekämpft hatte, das Gesicht der Sommerspiele. Zudem das Gesicht des geeinten Südafrika. Des erfolgreichen Werbeträgers, den das „Time“-Magazin zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt zählte. Als im Herbst die Beziehung zu Reeva Steenkamp bekannt wurde, war das neue Traumpaar der Society geboren.

Doch seit dem Valentinstag 2013 hat Pistorius’ Gesicht neue Facetten bekommen. Es war in den frühen Morgenstunden, als Oscar Pistorius seine Freundin durch die Badezimmertür erschoss. Das ist unbestritten. Doch was sich genau zutrug, darüber gehen die Versionen von Pistorius und der Staatsantwaltschaft auseinander.

Am Gericht in Pretoria will Richterin Thokozile Masipa das Geflecht von Aussagen, Beweisen, Indizien und Analysen entwirren. Drei Sitzungswochen sind geplant, allein die Anklage hat 107 Zeugen geladen. Es würde nicht verwundern, wenn der Prozess länger dauert.

Pistorius redet bis heute von einer tragischen Verwechslung. Seine Version geht so: Am 13. Februar 2013 legten er und Reeva sich vor Mitternacht in seiner Villa in Pretoria schlafen. In den frühen Morgenstunden sei er aufgewacht und aufgestanden, um einen Ventilator vom Balkon zu holen. Als er Geräusche aus dem Badezimmer hörte, habe er in Panik an einen Einbrecher gedacht. Er griff nach der Pistole unterm Bett und rief seiner Freundin zu, sie solle die Polizei rufen. Das Licht ließ er aus. Er ging ins Badezimmer. Dann schoss er.

Zurück im Schlafzimmer habe er bemerkt, dass seine Freundin nicht da sei. Er brach die verschlossene Badezimmertür auf, dahinter die verblutende Reeva. Er trug sie die Treppe hinunter, „sie starb in meinen Armen“.

Bei einer ersten Anhörung im vergangenen Sommer sagte er, er hätte nie die Absicht gehabt, seine Freundin zu töten. Er weinte. Am Jahrestag der tödlichen Schüsse schrieb Pistorius in einer Stellungnahme: „Keine Worte können meine Gefühle über das entsetzliche Unglück angemessen wiedergeben, das so viel Pein über uns alle brachte, die Reeva wirklich liebten – und sie weiter lieben.“ D

ie Staatsanwaltschaft wirft dem Sportidol Vorsatz und damit Mord vor. Wichtiger Anhaltspunkt: Zeugen berichteten, dass sie in den Stunden vor den Schüssen einen Streit gehört hätten – und eine schreiende Frau. Weitere Fragen sind offen: Warum war Steenkamp angezogen und nahm nachts ein Telefon mit auf die Toilette, warum sperrte sie die Tür ab? Wollte sie Hilfe rufen?

All das wird in Südafrika hitzig debattiert. In der Öffentlichkeit, so heißt es, glaubt kaum jemand an Pistorius’ Version. Stattdessen kämpfen Frauenrechtlerinnen dafür, den Fall als gesellschaftliches Problem zu erkennen: Demnach wird alle acht Stunden eine Frau von ihrem Mann oder Freund getötet.

Viele befürchten, dass Pistorius vor Gericht ein Prominenten-Bonus zuteil werden könnte. Weil er reich ist, prominent und weiß. Umgekehrt befürchtet Pistorius’ Familie, dass ein Schauprozess stattfinden wird. Auf einem eigenen Twitter-Account wollen sie deswegen die Geschehnisse im Gerichtssaal kommentieren.

Spannend wird die Frage, was vor Gericht an Entlastendem oder Belastendem vorgetragen wird. Schon in den letzten Tagen hielten sich die Meldungen fast die Waage. Fest steht: Einen solchen Prozess hat Südafrika noch nicht erlebt.

 

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