Vom Drama zur Staatsaffäre

Spekulationen und alte Wunden - Nach dem Brand von Ludwigshafen werden die Vorwürfe immer lauter. Noch weiß niemand, warum das Haus von drei türkischen Familien Feuer fing. Die Ermittlungen können laut Oberstaatsanwaltschaft noch mehrere Wochen dauern.
VON NATALIE KETTINGER
Neun Menschen, darunter fünf Kinder, sind tot. Sie erstickten im Rauchgas oder sprangen auf der Flucht vor den Flammen in den Tod. Noch weiß niemand, warum das Haus von drei türkischen Familien in Ludwigshafen Feuer fing. Die Ermittlungen können laut Oberstaatsanwalt Lothar Liebig noch mehrere Wochen dauern. Die Ungewissheit aber lässt die Spekulationen blühen. Und das Drama ist längst Politikum: Sofort nach Beginn seines Deutschland-Besuchs fuhr der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Unglücksort.
Gemeinsam mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck trauerte am Brandort um die Opfer und dankte ausdrücklich den deutschen Rettungskräften für ihren Einsatz. „Unsere Trauer sollte eine stille Trauer sein“, sagte Erdogan zudem und appellierte an die türkischen Medien sich in der Berichterstattung zu mäßigen. Für die scheint nämlich festzustehen, dass ein Anschlag vertuscht werden soll.
„Es hat eine entscheidende Rolle gespielt, dass Maria Böhmer, Ministerin für Integrationsfragen, gleich nach dem Feuer gesagt hat, dass es kein rechtsradikaler Angriff war. Das hat in der türkischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, man wolle etwas vertuschen“, sagt Faruk Sen, Direktor des Essener Zentrums für Türkeistudien. „Böhmer ist für Integration zuständig. Das bedeutet, dass sie bei ihren Aussagen vorsichtig sein muss.“
Auch Recep Tayyip Erdogan war direkt nach dem Brand drastisch geworden. „Wir wollen kein neues Solingen.“ Eine Anspielung auf den folgenreichsten Anschlag rechtsextremer Gewalt in Deutschland. Vor 15 Jahren waren in Solingen zwei Frauen und drei Mädchen der Familie Genc in ihrem Haus verbrannt.
„Das Schlimme ist: Die Türken in Deutschland können sich so etwas heute wieder vorstellen“, sagt Faruk Sen. „Seit dem 11. September 2001 herrscht in Deutschland eine Islam-Phobie. Da von den 3,5 Millionen Muslimen in Deutschland 2,7 Millionen aus der Türkei stammen, gibt es langsam eine türkenfeindliche Entwicklung in Deutschland.“ Angriffe auf Migranten in Ostdeutschland, das neue Einwanderungsgesetz, das den Familiennachzug erschwert und dazu der Wahlkampf von Roland Koch in Hessen – „das hat die Türken sehr unruhig gemacht“. An jedem Tag, der ohne Ermittlungsergebnis vergeht, wachse das Misstrauen. Und alte Wunden heilen nicht: „Die Täter von Solingen sind wieder frei. Trotzdem kann die Familie Genc ihre Schadenersatzforderungen nicht geltend machen, weil man die Adresse nicht bekannt gibt.“ Die Türken hielten alles für möglich: „Das ist ein schlechtes Gefühl.“
Ein Gefühl, das türkische Medien seit Tagen weiter anheizen. In Ludwigshafen habe ein „Nazi-Anschlag“ stattgefunden, schreibt „Sabah“. „Hürriyet“ bezeichnete die Stadt als „Nest von Neonazis“. Gerüchte werden ausgewalzt: Schon 2006 sollen Rechtsradikale einen Brandsatz in das Gebäude geworfen haben, in dessen Erdgeschoss sich ein türkischer Kulturverein befand. Der Übergriff ist aktenkundig, der Täter unbekannt.
Dass jemand an den Eingang des Gebäudes „Hass“ mit SS-Runen geschmiert hat, ist den türkischen Medien nicht entgangen. Die Polizei sagt, die Parole stehe schon seit Jahren dort. Es gibt Gerüchte von Drohanrufen.Und dann ist da die Aussage eines Mädchens aus dem Haus. Sie will beobachtet haben, wie ein Mann im Flur einen Kinderwagen angesteckt habe. Wir prüfen das, sagen die Ermittler. Polizei-Sprecher Heinz Hussy: Wir ermitteln „weiter in alle alle Richtungen“. Die Suche nach der Brandursache gestaltet sich schwierig, weil das Haus immer noch einsturzgefährdet ist. „Wir werden einfach Geduld haben müssen“, sagt Staatsanwalt Lothar Liebig.
Seit Jahren stehen SS-Runen an der Hauswand
Für manche ist das besonders schwer – vor allem für die Feuerwehrleute, die im Einsatz waren. Ihnen wird von einigen Türken vorgeworfen, zu spät ausgerückt zu sein. Ein Retter wurde deshalb zusammengeschlagen. Die ersten beiden Löschfahrzeuge waren zwei Minuten nach dem Notruf vor Ort. Deshalb habe man insgesamt 47 Menschen vor den Flammen retten können.
„Es geht nicht an, dass diese Menschen beleidigt und bedroht werden. Da werden Retter zu Tätern gemacht“, sagt Polizeipräsident Wolfgang Fromm.
Der Druck ist groß. Peter Friedrich, der Chef der Ludwigshafener Feuerwehr, kämpfte bei einem Besuch am Unglücksort vergebens gegen die Tränen.
Nun mahnen selbst die Opfer zur Besonnenheit – etwa Kamil Kaplan, der Onkel des kleinen Onur. Er hat das Baby vom Balkon des brennenden Hauses in die Arme eines Polizisten geworfen. Jetzt stellt er sich schützend vor die Einsatzkräfte: Er wolle sich bei Polizei und Feuerwehr bedanken, sagt der 32-Jährige. „Ich denke, wir sind alle gleich. Wir sind alle Menschen und jeder kann Fehler machen.“ Die Hinterbliebenen der neun Toten distanzieren sich ebenfalls von Angriffen auf Feuerwehrleute. „Das ist eine Entwicklung, die wir nicht gutheißen“, ließen sie über ihre Anwältin mitteilen.