Vom Arschgeweih zum Kultobjekt: Das Tattoo

Bis vor kurzem galten Tätowierungen als prollig, nun zeigt eine Studie: Tattoos sind gerade bei jungen Frauen wieder beliebt – als fleischverzierendes Accessoire
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Megan Fox
dpa Megan Fox

Bis vor kurzem galten Tätowierungen als prollig, nun zeigt eine Studie: Tattoos sind gerade bei jungen Frauen wieder beliebt – als fleischverzierendes Accessoire

Soll man jetzt Mitleid haben mit all den mittlerweile mittelalten Frauen? Die Mitte der 90er Jahre mutig in Tattoo-Studios stöckelten, welche damals meist in verdunkelten Schaufensterläden lagen. Die dann ein paar Sommer lang auf jeder Party stolz ihren Steiß zeigten. Die irgendwann ein mulmiges Gefühl bekamen, spürten, wie die Leute mit den Augen rollten, sobald sie ihren Stern, ihr Herz, ihren Delfin präsentierten – und die daraufhin, abermals mutig, einen Arzt aufsuchten. Diesmal um ihr Tattoo, dieses fleischverzierende Accessoire, dieses Avantgarde-Zeichen, wegzulasern. Alles umsonst.

Nachdem die mit Tinte in die Haut gestochenen Bilder in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Proll-Produkt verkamen, Steiß-Tattoos schlicht „Arschgeweih“ hießen und Träger derselben im öffentlichen Ansehen irgendwo zwischen Bodybuilder und Bordsteinschwalben rangierten, ist der Körperschmuck plötzlich wieder en vogue: Tattoos sind in. Nicht erst seit sie von Hollywood-Stars wie Angelina Jolie oder Popsängerin Rihanna auf jedem roten Teppich präsentiert werden.

Vor allem junge Frauen, das fand eine Studie der Universität Leipzig jetzt heraus, haben ihre Abneigung vor den Hautbildern verloren: In der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren trägt jede vierte Frau ein Tattoo, bei den 14- bis 24-Jährigen liegen die Frauen sogar vor den Männern. Auffällig dabei: Während Männer den Körperschmuck an exakt abgezirkelten Stellen tragen – vorwiegend an den Armen –, experimentieren die Frauen mit Stilen, Motiven und Hautregionen, kombinieren dazu oft Tattoos mit Piercings.

„Die meisten Frauen, die zu uns kommen, wissen genau, was sie wollen“, sagt Ralf Wallner, Inhaber des Tattoo-Studios „Wild at Heart“. Seit 1996 arbeitet der 44-Jährige als Tätowierer, hat den Boom Mitte der 90er Jahre miterlebt und danach sein langsames Verebben. Jetzt, plötzlich, kommen die Menschen wieder vermehrt, fragen nach „Retro-Motiven“, lassen sich Anker, Würfel, Spielkarten tätowieren.

„Der Anteil von farbigen Motiven nimmt stetig zu“, sagt Wallner, „die Tattoos werden immer größer, und die Geräte sind mittlerweile dermaßen ausgereift, dass dies ohne Weiteres möglich ist“. Die gesamte Branche, so Wallner, habe sich in den vergangenen Jahren professionalisiert, unseriöse Klitschen und siffige Hinterhofläden seien kaum mehr anzutreffen. Tattoos, früher einmal Ausdruck einer Gegenkultur und bildhaftes Symbol von Menschen am Rand der Gesellschaft, seien heutzutage „längst Mainstream“ geworden. „Früher trugen Straftäter, Aussätzige und Seemänner Tattoos wie ein Stigma“, sagt Wallner, „heute ist es teilweise auch ein Mode-Accessoire für Bankangestellte, Lehrer und Studenten geworden“.

Dass Tattoos in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, bestätigt auch Katharina Seßler, Diplomsoziologin an der Uni München. „Tattoos sind ein Kulturgut, das verschiedene Bedeutungen transportiert und weit über den puren Modeeffekt hinausgeht.“

Von Alaska bis Feuerland, von Island bis Japan ritzten sich die Menschen bereits vor 6000 Jahren mit Steinen oder Knochen die Haut auf, rieben die Wunden mit Asche oder Pflanzenfarbe ein – und bewiesen so ihre Gruppenzugehörigkeit, ihren Glauben an deren Werte.

In Ägypten sollte das Tattoo dem Verstorbenen Kraft und Fortpflanzungsfähigkeit im Jenseitz geben, die Kelten verherrlichten mit ihnen Schöpfer- und Lebenskräfte. Bei den Ainu, den Ureinwohnern Japans, bekamen Mädchen mit einer Tätowierung rund um den Mund den Status der erwachsenen Ehefrau, und die Frühchristen ließen sich religiöse Symbole (Lamm, Kreuz, Fisch) auf die Stirn stechen. „Tätowierungen hatten früher oft einen kultischen, religiösen Hintergrund“, sagt Seßler, „wurden als Mittel der Abgrenzung genutzt“. Und heute?

Heute hat das Tattoo viel von seiner Provokationskraft verloren, ist kein Symbol mehr von protestierenden Jugendkulturen wie bei den Punks in den 70er und 80er Jahren. Stattdessen ist die Tätowierung als ein „unter die Haut gestochenens Kommunikationsmittel eines Lebensgefühles“ salonfähig geworden. Und weil das Tottoo sanft entfernt werden kann, verliere es viel von seiner Radikalität. Man muss nicht mehr mutig sein, um sich ein Tatto stechen zu lassen. Alles, was man benötigt, ist Stilempfinden. Das genügt.

Jan Chaberny

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