Unser kleines Naturwunder

Wie eine herzerfrischende Dilettantin zum deutschen Darling wurde, und warum eine 19-jährige Abiturientin ohne Skandale Fans und Feuilletons verzückt.
von  Abendzeitung
Lena und ihr Entdecker Stefan Raab
Lena und ihr Entdecker Stefan Raab © dpa

Wie eine herzerfrischende Dilettantin zum deutschen Darling wurde, und warum eine 19-jährige Abiturientin ohne Skandale Fans und Feuilletons verzückt.

Was sie im Falle eines Sieges tun würde, ist sie vom „Tagesspiegel“ gefragt worden. Ihre Antwort war nicht mädchenhaft niedlich, sondern trocken: „Wahrscheinlich für den Rest meines Lebens ,Satellite’ singen.“ Das ist, so würden es die Feuilletons nennen, lenaesk. Typisch für die 19-Jährige aus Hannover, die innerhalb weniger Wochen scheinbar alle lieben gelernt haben: Die Jugendlichen, die Mamas und auch die Papas von den Jugendlichen, Musikhaudegen wie Marius Müller-Westernhagen, Schlager-Ikonen wie Gitte Haenning und eben die Herren des Hochfeuilletons. Wenn das Mädchen am Samstag „Satellite“ beim Eurovision Song Contest vorträgt, dann ist das für viele mehr als ein Songwettbewerb: Lena Meyer-Landrut ist jetzt ein nationales Ereignis. Würde sie sich das bewusst machen, würde sie vermutlich mehrmals „Alter Finne!“ ausstoßen, so wie sie es nach ihrem Sieg beim Vorentscheid tat.

Doch was ist dran an Lena? Zuallererst ist sie das Produkt einer konzertierten Aktion von Privatfernsehen und Öffentlich-Rechtlichen. Die einen hatten Stefan Raab, den mächtigen Mann mit Sinn für Talente, die anderen einen maroden Vorentscheid, der kaum jemand mehr sehen wollte. Zusammen casteten sie die Hoffnung für Oslo. Es war, so wie es Raab schon auf ProSieben gemacht hatte, ein Gegenentwurf zu Dieter Bohlens prolliger RTL–Show „DSDS“.

Lena erfreute dort von Anfang an: Die Autodidaktin kann nicht besonders gut singen, sie singt mit einem seltsamen Akzent, sie bewegt sich ungelenk, aber sie ist, wie es Showexperten nennen, präsent. Das bedeutet: obwohl sie zwischendurch ins Mikro gluckst, x-beinig dasteht und mit den Armen zappelt, schauen und hören ihr die Leute gerne zu. Grand-Prix-Papst Ralph Siegel ätzt von „Dilettantismus“, doch den Deutschen ist das wurscht. Unverfälscht kam sie daher, in ihrer Unvollkommenheit steckte Echtheit - im Gegensatz zu den von RTL gezüchteten Stars, deren Lächeln aufgesetzt wirkt und deren Privatleben in Kooperation mit der Bildzeitung inszeniert wird.

Lena sagte einfach, was ihr einfiel. In einer Show war das zum Beispiel: „Ich zitter total, ich dachte nicht, dass mich das so mitnimmt. Ich dachte immer: ach, die Alten aus der Castingscheiße...“

Erfrischend unbeeindruckt schien sie vom Star-Zirkus. Als Thomas Gottschalk sie auf der Wettcouch für ein bisschen doof hält und fragt, ob sie Anna Netrebko kenne, sagt sie „Ja, finde ich zum Kotzen“. Natürlich schiebt sie nach, dass das nur ein Scherz war. Denn trotz schnoddriger Sprüche ist das zierliche Mädchen ja artig. Sie nimmt keine Drogen, war nicht im Knast, sie ist ein ganz normaler Teenie. Nach ihrem Auftritt bei Gottschalk schüttelt sie der Netrebko die Hand und geht wieder lernen fürs Abitur. Das hat vielleicht wenig Glamour, doch offenbar ist gerade das das Reizvolle an Lena. Das Kulturmagazin „ttt“ vermutet gar eine „neue Sehnsucht nach Bürgerlichkeit hinter dem „Mythos Lena“.

Lena offenbart sich nicht in „Bild“, sie beantwortet keine Fragen nach ihrem Privatleben, sie lässt keine Homestorries machen. Das finden viele sympatisch, weil es ihr offenbar nicht nur um Berühmtheit geht. Ihr Ziehvater Stefan Raab hat ihr diese PR-Strategie vermacht und gleichzeitig dafür gesorgt, dass es von „Morgenmagazin“ bis „Tagesthemen“ keine lenafreie Zone mehr gibt.

Ganz aus dem rosaroten Mädchenhimmel ist sie allerdings nicht gefallen: In ihrem Vor-Grand-Prix-Leben hat sie sich mit 17 im Trashfernsehen nackt filmen lassen, der Drang zum Schweinwerfer war also auch fern der Sangeskunst durchaus vorhanden.

Inzwischen ist ihre Natürlichkeit die eigentliche Marke, die Raab verkauft – die Kulturpessimisten unken schon jetzt, dass sich das von selbst ad absurdum führen wird. Wie lange kann jemand, der so im Rampenlicht steht und für ein Naturwunder gehalten wird, natürlich bleiben?

Doch bis dahin feiert Deutschland seine Lena. Und auch wenn das Mädchen mit der spröden Show und dem uneingängigen Song keine Chance haben sollte – der Beschützerinstinkt der lenaisierten Zuschauer wird groß genug sein, dass ihr das erstmal keiner übel nimmt.

Tina Angerer

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