Undercover unter Reichsbürgern: Kann man Nazi sein, ohne es zu wissen?

Der jüdische Autor und Regisseur Tobias Ginsburg begibt sich für sein neues Buch undercover unter "Reichsbürger". Die AZ hat mit ihm über seine Erfahrungen gesprochen.
von  Bettina Funk
Vor wenigen Tagen demonstrieren Teilnehmer in Hamburg, unter ihnen sind laut dem Verfassungsschutz auch „Reichsbürger“.
Vor wenigen Tagen demonstrieren Teilnehmer in Hamburg, unter ihnen sind laut dem Verfassungsschutz auch „Reichsbürger“. © Christian Charisius/dpa

AZ: Herr Ginsburg, was ist die Idee hinter Ihrem neuen Buch "Die Reise ins Reich: Unter Reichsbürgern"?
TOBIAS GINSBURG: Ich hatte ein gewisses Grundinteresse an dieser Reichsideologie, die in den Medien oft als sehr wirre Bewegung dargestellt wird. Als Theaterautor hatte ich schon immer wieder über bestimmte Themen recherchiert. Meine Vorstellung war: Ich fahre da mal hin, ich schaue es mir mal an und daraus könnte ja ein Artikel werden. Ich fand schon allein die Vorstellung des Realitätsboykotts sehr kurios. Die Reichsbürger sagen: ‚Es gibt dieses Land nicht, ich mache da nicht mit’. Man kann sagen, dass ich als ideologischer Katastrophentourist hingefahren bin. So kam ich dann zuerst in diese sehr kuriose Politsekte "Königreich Deutschland", die sich vor allem dadurch hervortat, dass sie die Bekannteste ist.

Was haben Sie bei Ihrem ersten Besuch dort erlebt?
Der eine Besuch dort hat gereicht, um festzustellen, dass dahinter ein immenses System steckt. Das ist mehr als Wahnsinn, das sind mehr als ein paar Verschwörungstheoretiker. Ich war auch davon überrascht, wie solche Verschwörungstheorien funktionieren. Denn was bedeutet es, wenn jemand glaubt, wir werden manipuliert von der Medizin, von der Physik, vom Staat, von der Politik und natürlich von der Lügenpresse? Die Grundlage bedeutet immer, es muss jemanden geben, der hinter dieser Verschwörung steckt. Am Ende landet man immer bei dieser grundsätzlich antisemitischen Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung.

Sie sind Jude. Wie war das für Sie, mit diesen Vorstellungen konfrontiert zu werden?
Sehr gruselig. Darunter sind auch Menschen, die mich gerne tot sehen würden. Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland 15.000 Reichsbürger gibt, aber das ist eine wahnsinnig grobe Schätzung, weil wir gerade erst verstehen, was ein Reichsbürger ist. Sie müssen unterscheiden innerhalb dieser Reichsbürgerbewegung zwischen Rechten und Neonazis über Neu-Rechte bis AfD und besorgte Bürger, die in diese Ideologie zumindest teilweise eintauchen, bis hin zu überzeugten Reichsbürgern. Oft steckt dahinter Antisemitismus, der nicht als solcher verstanden wird.

Gibt es eine grundsätzliche Frage, die Sie im Buch stellen?
Eine sehr wichtige Frage lautet: Kann man Nazi sein, ohne es zu wissen? Ein Mann, mit dem ich mich angefreundet hatte, erzählte mir mit hochrotem Kopf und voller Wut und Angst von den Blutmagiern, die die Christenkinder klauen und austrinken und dadurch Macht generieren. Mit anderen Worten: Das ist die antijüdische Blutmordlegende, nur dass der Mann im Aufzug das Wort "Jude" nicht mehr verwendete. Ich wollte den Kern dahinter erfahren: Von wem gehen diese Verschwörungstheorien aus? Wer hat ein Interesse daran, den Leuten einzureden, Deutschland sei kein selbstbestimmtes Land? Es sei in der Hand der Besetzer und der geheimen Mächte.

"Ich bin blauäugig mit echtem Namen reinmarschiert"

Können Sie definieren, was ein "Reichsbürger" ist?
Es geht um die Vorstellung, dass deutsche Volk sei Opfer einer Weltverschwörung und die BRD deshalb kein rechtmäßiger Staat. Aber es gibt halt viele Varianten dieser Vorstellung. Manche sagen, dass Deutsche Reich von Hitler dauert noch an, andere sagen, Deutschland ist besetzt von den Amerikanern und kein freies Land, andere sagen, der deutsche Staat ist eine Firma mit Sitz in Frankfurt am Main. Vernetzungen sind aber gegeben. Bis hin zur AfD, die in ihrem Parteiprogramm schreibt, Deutschland werde regiert von einem heimlichen Souverän, wer das ist, lässt die AfD blank, spricht aber gleichzeitig davon, dass Merkel eine Diktatorin ist.

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Man wird mir nicht glauben, wie blauäugig ich da anfangs reinmarschierte – auch unter meinem echten Namen. Als mir dann klar wurde, wie weit verzweigt das ist, habe ich ein Alter Ego erschaffen: die Geburt von Tobias Patera. Das war eigentlich ich, wenn ich nicht Jude gewesen wäre, und wenn mein ganzes Leben viel schlechter verlaufen wäre. Ich habe mir eine Facebook- und eine Webseite gebastelt und habe gesagt, ich bin Journalist für alternative Themen und ich möchte gerne die Szene porträtieren und dafür Interviews machen. Tobias Patera wurde in der Szene schnell populärer und das führte mich in die Hinterzimmer, wo wir geplant haben, die Regierung zu stürzen. Das war so ein Zusammenschluss verschiedener Reichsbürgergruppierungen.

"Ich bin auch auf Bundestagsmitglieder der AfD getroffen"

Was für Menschen sind Ihnen begegnet?
Man ist zum Beispiel auf einer Veranstaltung von braunen Esoterikern, also Menschen, die an rassistische Spiritualität glauben. Da sitzen neben einem Leute, die ihren Job verloren haben, krank wurden und ihren Halt verloren haben oder durch das soziale Netz gefallen sind. Und dann sitzt da auch eine Frau aus einem mittelständischen Betrieb, mittel alt, mittel intelligent, mittel hübsch und sagt: ‚Es ist gut, dass hier alles hinterfragt wird.’ Oder dann sitzt da der Biolehrer aus dem Gymnasium. Das sind die Momente, in denen einem die Kinnlade runterfällt. Ich bin auch mehrfach auf AfD-Funktionäre und -politiker getroffen, von denen einige mittlerweile im Bundestag sitzen.

Welches Fazit ziehen Sie?
Ich formuliere es mal prätentiös: Wir haben eine Sprachkrise. Denn wir können nicht sagen: Das ist ein Reichsbürger, das ist ein Nazi, das ist ein Rechter. Wir haben ein Problem, wenn wir selbst nicht mehr erkennen, was rechts ist und wenn uns Rechtsradikalismus als Alternative verkauft wird. Wir können nicht mehr sagen, wovon wir reden. Es gab diese Wahnvorstellungen in Deutschland schon einmal und die werden nicht als solche erkannt. Weder von uns, also von dem Bürgertum, noch von denen, die ihnen erliegen. Ich sage nicht, dass die ganze AfD faschistisch ist, aber Teile davon. Die Verschwörungstheorien haben eine große Karriere hingelegt und die Reichsbürger sind ein Symptom, sie sind nicht die Krankheit. Sie sind ein brandgefährliches Symptom.

Welches Buch ist entstanden?
Das Buch versucht den Menschen, die da hineingeraten sind, nicht despektierlich gegenüberzutreten, nicht zu untertreiben, wie gefährlich es gleichzeitig ist und auch die Unterhaltsamkeit des Wahnsinns und die Faszination des Abgrundes zu beschreiben. Das ist oft auch, so unangenehm das Sujet sein mag, einfach witzig, denn es ist eine kuriose Parallelgesellschaft.       


Die Reise ins Reich: Unter Reichsbürgern, 272 Seiten, Verlag: Das Neue Berlin, 17,99 Euro

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.