Interview

Tier- und Naturfilmer Jan Haft im Interview: "Wir brauchen eine neue Wildnis"

Der Biologe Jan Haft, vielfach ausgezeichneter Natur- und Tierfilmer, fordert mehr Flächen in Deutschland, die der Natur und den Tieren überlassen werden. In diesen Biotopen würde die Artenvielfalt explodieren, sagt er. Der Mensch dürfte dabei dennoch eingreifen.
von  Leonie Fuchs
Ein Anblick, den man heute nur noch in geschützten Gebieten bekommt: Wasserbüffel im Biotop Beeden im Saarland. Der Biologe und Naturfilme Jan Haft plädiert dafür, Tiere wieder stärker in die Fläche zu holen - im Zusammenleben mit den Menschen.
Ein Anblick, den man heute nur noch in geschützten Gebieten bekommt: Wasserbüffel im Biotop Beeden im Saarland. Der Biologe und Naturfilme Jan Haft plädiert dafür, Tiere wieder stärker in die Fläche zu holen - im Zusammenleben mit den Menschen. © IMAGO/U. J. Alexander

AZ: Herr Haft, als Dokumentarfilmer reisen Sie um die ganze Welt. Dabei haben Sie sich auch auf die Suche nach Wildnis begeben. Haben Sie sie gefunden?
JAN HAFT: Wir sind seit vielen Jahren vor allem in der heimischen Natur unterwegs. Das Thema habe ich für mich entdeckt, weil es eines ist, an dem man exemplarisch die Bereiche Tierwohl mit Landwirtschaft, Klimaschutz und Biodiversität verbinden kann. Das ist mir eine Herzensangelegenheit.

Das Problem: "Die großen Tiere fehlen überall"

Bei Wildnis denkt man automatisch an eine Savanne der Serengeti oder einen Dschungel in Indonesien. Gibt es sie in Europa?
Jein. Natürlich ist das Wattenmeer irgendwie menschenleer, das Hochgebirge auch – in solchen Gegenden existiert zumindest viel Natur. Aber wir haben vor allem in Mitteleuropa ein großes Problem: Die großen Tiere fehlen überall. Jedoch sind diese Prozessgeber, Ökosystemdienstleister.

Was meinen Sie damit?
Über viele Millionen Jahre hatten wir immer mindestens ein Dutzend von großen Tieren bei uns in Europa: Huftiere, die hier weideten und aßen. Sie haben dadurch die Landschaft offen gehalten. Das war noch im Jahr 1900 so. Damals hat es in Deutschland 30 Millionen Rinder und Pferde gegeben, die draußen auf Wiesen und im Wald weideten, wühlten und suhlten. Diese Urlandschaft glich damals stark der Wildnis.

Was passierte mit ihnen?
Der Mensch kam, die großen Tiere verschwanden, wurden ausgerottet oder selten – etwa der Wisent. Wildtierherden wurden durch Nutztiere ersetzt. Wir haben sie industrialisiert und in Ställe gesperrt. Das Land wird heute entweder als Forst oder akkurate Intensivgrünland bewirtschaftet. In dieser streng aufgeteilten Landschaft finden die meisten Tiere nicht mehr ausreichend Platz, um sich zu vermehren.

Die Folge ist die Biodiversitätskrise, der wichtigste Grund für das Insektensterben. Im Umkehrschluss lautet aber die frohe Botschaft: Es wäre ganz einfach, auch in Deutschland, eine neue Wildnis wiederherzustellen.

Sprich: Am Rückgang der großen Tiere ist der Mensch Schuld?
Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wie man Wildnis definiert. Ist es ein Ort, an dem noch nie ein Mensch war? So einen finden wir wahrscheinlich kaum noch auf der Welt, weder in Wüsten noch in Regenwäldern. Ich würde Wildnis eher definieren als einen Raum, in dem natürliche Prozesse ablaufen, Ökosysteme, in denen Pflanzen, Tiere und Pilze Platz haben, die in der Evolution dort ursprünglich schon einmal vorgekommen sind.

Dann stört es auch nicht, wenn wir nebenan Städte oder Straßen bauen. Denn für das Zusammenleben gibt es Lösungen: Grünbrücken und Tunnel für Amphibien und Wildtiere etwa. Wir können Städte auch ökologisch gestalten, den Ackerbau als Biolandwirtschaft mit breiten Randstreifen anlegen, wo es blüht, wo Heuschrecken hüpfen und Hamster leben können. Mindestens zehn Prozent der Landesfläche müssten derartig gestaltet werden!

Es braucht beweidete Landesteile – eine neue Wildnis

Wo könnten solche Wiederansiedlungsprojekte stattfinden?
Zum Beispiel in sowieso ungünstigen Flächen für die Landwirtschaft: In Flussauen, wo es Überschwemmungen gibt, auf den Muschelkalk-Plateaus in Thüringen, wo der Ackerbau Schwierigkeiten hat, oder auf den sandigen Böden in Brandenburg, wo eh nicht viel wächst. Wenn man diese Gebiete "rewilden", also mit großen Tieren versehen würde, dann könnten mehr Biodiversität geschaffen und das Insektensterben aufgehalten werden.

Und die Tiere, die wir heute in Ställe sperren, hätten dann wieder ein grandioses Leben. In der offenen Landschaft kommen 90 Prozent unserer Organismen vor. Sie bevorzugen diese gegenüber dem Wald. Egal ob Urwald oder Forst: Dort leben also nur etwa zehn Prozent unserer heimischen Arten.

Heute gelten gerade einmal 0,6 Prozent der Landesfläche offiziell als geschützte Wildnisgebiete. Sind diese wirklich wild?
In denen passiert leider gar nicht so viel. Diese politisch gewollten Wildnisgebiete hat man definiert als solche, in denen der Mensch nicht mehr eingreifen darf. Das heißt, sie wachsen einfach mit Büschen und Bäumen zu, potenzielle Hotspots der Artenvielfalt gehen verloren. Das ist ein bekanntes Problem, auch in unseren Nationalparks.

Unabhängig von diesen Orten braucht es beweidete Landesteile – eine neue Wildnis. Fakt ist, dass in diesen Gebieten die Artenvielfalt dann explodiert und in diesen Weidelandschaften viel mehr Kohlenstoff im Boden gespeichert wird als im Wald. Solche Gebiete brauchen wir unabhängig von politischen Diskussionen.

So eine neue Wildnis könnte also auch vor der Haustüre stattfinden?
Richtig! Wir wohnen auf einem Bauernhof mit Wald und haben ein Gebiet, wo wir zwei Wasserbüffel beweiden. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele Frösche und Singvögel sich dort tummeln. In so einer neuen Wildnis passieren wundervolle Dinge, man bräuchte sie nur auf größerem Raum, auch in unseren Naturschutzgebieten.


"Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur" von Jan Haft erscheint am 1. März im Penguin Verlag, 144 Seiten, 18 Euro.

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