Studie: Der Erdkern dreht sich nicht mehr – wirklich?

Eine Studie aus China legt das nahe. Aber in Berichten darüber ist etwas Entscheidendes vergessen worden, erklärt LMU-Professor Heiner Igel.
von  Rosemarie Vielreicher
Der innere Aufbau der Erde.
Der innere Aufbau der Erde. © imago stock&people

Wenn etwas plötzlich nicht mehr rundläuft oder aufhört sich zu drehen, obwohl es das normal tut, horcht man automatisch auf: Stimmt da was nicht? So erging es vielen auch bei der verkürzten Meldung in weltweiten Medien: Der Erdkern habe aufgehört, sich zu drehen.

Hat der Erdkern aufgehört sich zu drehen? LMU-Professor klärt auf

Diese Annahme – die nichts mit den kürzlichen Erdbeben in der Türkei und Syrien zu tun hat – basiert auf Ergebnissen einer Studie aus Peking, die in der Fachzeitschrift "Nature Geoscience" vorgestellt wurde. Doch was hat es damit auf sich? Und stimmt diese Formulierung überhaupt? Die AZ hat Dr. Heiner Igel, Professor für Geophysik und Seismologie an der LMU, um Klärung gebeten.

Heiner Igel.
Heiner Igel. © privat

Er sagt im AZ-Gespräch sehr deutlich: "Dass der Erdkern aufgehört hat, sich zu drehen, stimmt überhaupt nicht." Er spricht von einem "großen Medienmissverständnis", denn: "Ein ganz bestimmtes Wort wurde vergessen: differenziell." Damit meint er im Verhältnis zur Erde, die sich um sich selbst dreht.

Erdkern ist von Flüssigkeit umgeben

Aber erst einmal zum Kern des Kerns: Er besteht aus einem inneren festen Teil – um den es in der Studie geht – und einem flüssigen äußeren Kern. Der innere Teil habe etwa einen Radius von rund 1.000 Kilometern, so Igel. Der äußere nochmal von etwa 2.000 Kilometern. Die Erde hat also einen inneren Kern, der von Flüssigkeit umgeben ist.

Der Professor erklärt es mit einem Beispiel, das jeder zu Hause nachstellen kann. "Stellen Sie sich eine Kaffeetasse vor. Sie geben ein Objekt, das schwimmt, in die Mitte der Tasse" – der Kaffee wäre in diesem Fall der äußere flüssige Kern, das Objekt der innere feste.

"Wenn Sie diese Tasse ganz langsam drehen, dreht sich das Objekt in der Mitte in der gleichen Geschwindigkeit mit." Wenn man die Tasse dagegen schneller drehe, "verhält sich das Objekt in der Mitte träge und dreht sich nicht mit".

Missverständnis: Der Erdkern "dreht sich mit gleicher Geschwindigkeit wie die Erde"

Die Frage im Zusammenhang mit der Rotation des inneren Kerns muss laut Igel heißen: "Dreht sich der Kern mit der Erde mit oder hat er ein Eigenleben und dreht sich schneller oder langsamer?" Die Studie besagt ihm zufolge nur, dass vor rund 30 Jahren eine etwas schnellere Rotation des Kerns im Vergleich zur Erde beobachtet wurde, aktuell verzeichnet man diese nicht. "Das heißt aber nicht, dass sich der Kern plötzlich nicht mehr dreht, sondern er dreht sich mit gleicher Geschwindigkeit wie die Erde."

Die Wissenschaftler aus China stellen auch Vermutungen darüber an, ob es eine Art Oszillation gibt. Das bedeutet Igel zufolge, dass sich der Kern eben manchmal etwas schneller und manchmal etwas langsamer als die Erde insgesamt dreht. "Es geht letztlich um einen relativ kleinen Effekt."

Warum dem so ist, lässt sich laut Igel noch nicht mit Sicherheit interpretieren. Denn die herangezogenen Daten beschreiben "unglaublich feine Änderungen". Und: "Die Unsicherheiten der Daten sind noch sehr groß."

Es gebe auch genügend Wissenschaftler, "die infrage stellen, ob die Effekte wirklich etwas mit der Drehung des Erdkerns zu tun haben oder ob es noch andere Möglichkeiten gibt." Er nennt zum Beispiel die Topografie der Kernmantelhülle und meint damit die Grenze zwischen innerem und äußerem Kern.

Seismische Wellen als wichtigste Analysemöglichkeit

Den Erdkern zu untersuchen, stellt Wissenschaftler weltweit vor Schwierigkeiten: "Wir haben keine Teleskope, die reinschauen können, und wir können nicht so tief bohren." Das bedeutet: "Leider ist es so, dass wir keine unabhängigen Möglichkeiten haben nachzuprüfen, ob es stimmt." In der Studie wurden seismische Wellen herangezogen, um den Erdkern zu untersuchen. Diese sind laut Igel die wichtigste Analysemöglichkeit. Diese Wellen laufen von einer Seite durch den Erdkern hindurch zur anderen Seite und können dadurch Hinweise auf Eigenschaften und das Verhalten des Kerns liefern.

Man hat demnach zum Beispiel festgestellt, dass seismische Wellen, die von einem Pol zum anderen laufen, oder von Äquator zu Äquator, sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten aufwiesen.

Eine weitere Möglichkeit zur Messung wäre die Eigenschwingung der Erde, auch daraus könnte man Rückschlüsse gewinnen.

Welche Auswirkungen müsste man auf der Erde überhaupt erwarten, wenn die Studie zutreffen würde? "Wir würden den Effekt nicht direkt sehen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass eine Änderung der Drehung des Erdkerns eine Auswirkung auf das Erdmagnetfeld haben könnte." Dieses wird vom äußeren flüssigen Kern erzeugt, eine differenzielle Drehung könnte sich darauf auswirken. Aber wie gesagt: theoretisch.

Igel sagt weiter: "Ich bin natürlich interessiert an der Studie, allerdings sind wir noch weit davon entfernt, mit Sicherheit sagen zu können, dass die Beobachtungen und Interpretationen wirklich korrekt sind. Dazu braucht es noch weitere Studien und Daten. Und dafür brauchen wir Zeit – Jahrzehnte."

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