So wird Tibet frei!

Der 63 Jahre alte Südtiroler ist der erste Mensch, der alle 14 Achttausender der Erde bestiegen hat. Er kämpft für Umweltschutz und Menschenrechte. Reinhold Messner im AZ.Interview über den Kampf der Mönche und was wir für sie tun können.
Der Extrembergsteiger Reinhold Messner ist einer der besten Tibet-Experten. Er kennt das Land, in dem er oft unterwegs war, seit 30 Jahren. Gerade hat er über seinem Museums-Schloss Sigmundskron bei Bozen eine zehn mal sieben Meter große tibetische Flagge gehisst.
AZ: Herr Messner, warum die Tibet-Flagge in Südtirol?
REINHOLD MESSNER: Sie ist ein Symbol für die verzweifelte Situation der Tibeter. Diese Flagge wurde von Flüchtlingskindern gemalt, die über den Himalaya nach Nepal und dann weiter nach Dharamsala in Indien geflohen sind. Und es geht uns um das kulturelle Erbe Tibets, das nicht verloren gehen darf.
Was verbindet Sie mit Tibet?
Ich war einer der Ersten, die nach der Besetzung durch China wieder rein durften, habe viele Expeditionen dort gemacht und das Land von Osten nach Westen zu Fuß durchmessen. Die tibetische Kultur ist einmalig, was auch mit der Geographie zusammenhängt. Die größten Gebirgszüge der Welt stehen wie ein Zaun um Tibet herum. Deswegen konnte sich die unverwechselbare Kultur bis heute halten.
Wie sieht sie aus?
Die Tibeter sind verstreut über ein Hochland, das ist so groß wie Spanien, Deutschland, England, Frankreich, Italien und Polen zusammen. Die Chinesen haben es in drei Provinzen zerstückelt. Es gibt die Yak-Nomaden, die herumziehen, die eine eigenständige Kultur haben. Dann gibt es die Mönche, Tibet war ja ursprünglich ein Mönchs-Staat. Eine Situation übrigens, mit der ich ebenfalls nicht glücklich gewesen bin.
Warum?
Die Menschen haben nur gearbeitet, damit die Mönche meditieren können. Das war sozial auch nicht die Ideal-Form. China hat dann den Kommunismus gebracht und radikal versucht, das Tibetische auszulöschen. Die Menschen haben eine ganz andere Beziehung zu ihrem Land und zu ihren Bergen als wir. Wenn ich in meine Museen hauptsächlich tibetische Kunst eingebracht habe, dann deswegen, weil die engste Beziehung Mensch-Berg dort zu finden ist. Auch das versucht man auszulöschen. Die Menschen sollen zum Berg keine emotionale Bindung mehr haben, sondern ihn ausbeuten. Der Berg hat oft im Innern Öl oder Kohle, und da geht man rein und holt das raus. Völlig wurscht, ob ein Chaos zurückbleibt. Das entspricht nicht der tibetischen Lebenshaltung.
Sondern?
Die Tibeter empfinden den Berg als einen heiligen Ort. Für sie sind die großen Berge die Tanzplätze der Götter, die mit den Naturkräften identisch sind. Da oben tanzen die Winde, da tanzen die Wolken, da ist Gefahr. Gefahr und Götter gehören für die Tibeter zusammen.
Nun tragen die Chinesen das Olympische Feuer auf einen der göttlichen Tanzplätze – auf den Everest-Gipfel.
Das hätten die Tibeter nie getan. Diese eroberungssüchtige Haltung ist eine westliche. Das ist unsere Haltung und ich nehme mich da nicht aus. Wir Europäer, wir Amerikaner, wir Westler generell, wir aufgeklärten Menschen, haben geglaubt, wir müssten die Welt bis in die letzten Winkel erobern und nutzbar machen. Die Tibeter haben das nicht getan. Sie haben das Jenseitige, das Göttliche respektiert und sind eben nicht hinaufgestiegen. Und für sie ist das Olympische Feuer am Mount Everest ein brutales Eroberungs-Signal.
Was halten Sie von der Forderung nach einem Boykott der Olympischen Spiele?
Ich bin da offen. Die Olympiade soll ruhig stattfinden, aber man muss vorher nicht das Feuer auf den Berg rauftragen – das ist eine Beleidigung für die tibetische Kultur.
Eine gewollte?
Vielleicht tun die Chinesen das gar nicht absichtlich. China will zeigen, dass es ein aufstrebendes, ein modernes, ein großartiges Land ist, das in wenigen Jahren die Führung der Weltwirtschaft, vielleicht auch militärisch, übernehmen wird. Dagegen haben wir nichts zu sagen. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, dass die Chinesen noch eine Einparteienregierung haben. Sie brauchen ihre Zeit, um zur Demokratie zu kommen. Aber sie haben trotzdem nicht das Recht, in der Zwischenzeit die Menschenrechte mit Füßen zu treten.
Was wollen die Tibeter, was die Chinesen?
Es geht nicht darum, dass Tibet ein eigener Staat werden will, sondern darum, dass man den Tibetern ihre Eigenständigkeit nicht nimmt, und das ist nur möglich in einer Autonomie im Rahmen der Volksrepublik. Der Dalai Lama war immer mit dieser Haltung zufrieden und nur, weil die Chinesen niemals nachgegeben haben, sind jetzt junge Kräfte in Eigenregie aufgestanden und haben mit lauterer Stimme, oder auch mit ihren Fäusten, nach Demokratie gerufen. Allerdings ohne etwas kaputt zu machen. Inzwischen ist es offensichtlich, dass China selbst die Verwüstungen angerichtet hat.
Was macht Sie so sicher?
Ich habe selber erlebt, wie in Lhasa bei kleinen Protest-Aktionen die jungen Mönche niedergeknüppelt, halb tot auf Lastwagen geworfen wurden und dann irgendwo verschwunden sind. Ich bin in China auch öfter verfolgt worden und habe mich monatelang in Klöstern versteckt.
Warum?
Weil ich im Osten von Tibet war ohne eine konkrete Genehmigung und die Chinesen versucht haben, mich wieder rauszuschmeißen.
Sie kennen den Dalai Lama persönlich. Wie geht er mit der Situation um?
Seine Heiligkeit ist in einer ganz schwierigen Lage. Sie müssen sich vorstellen: Er ist als junger Mann 1959 aus Lhasa geflohen, mit Pferden, verfolgt von chinesischen Panzern. Seit damals bemüht er sich mit friedlichen Mitteln eine Autonomie herbeizubeten und -zudiskutieren. Jetzt plötzlich merkt er, dass die jungen Tibeter ihm nicht mehr folgen. Die sagen: „Es hat alles nix genützt, aber in den muslimischen Ländern ist mit radikalem Terrorismus eine politische Veränderung erreicht worden. Warum gehen wir nicht den gleichen Weg?“ Das wäre tragisch. Aber mit friedlichen Mitteln ist eine Autonomie nur möglich, wenn die demokratischen Führer und die Sportfunktionäre sich mutig äußern.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Sport?
Sport ist nicht Politik, aber Funktionäre haben auch eine politische Funktion. Deswegen fordere ich von ihnen ein Bekenntnis. Ich würde mir wünschen, dass man vor den Spielen so viel Vehemenz an den Tag legt, dass China sagt: „Okay, wir beginnen Verhandlungen mit den Vertretern des Dalai Lama.“
Und die Politik?
Ich fordere, dass die westlichen Politiker sagen: „Diese Olympiade kann nur akzeptiert werden, wenn die Menschenrechte in Tibet nicht mit Füßen getreten werden.“
Halten Sie ein Einlenken Pekings für realistisch?
Ich bin überzeugt davon, dass China nachgibt, wenn der Rest der Welt sagt: „So nicht.“ Und wenn der nächste Schritt dann wäre, nicht mehr unbedingt chinesische Ware zu kaufen, würde der Druck noch viel größer. Ich erkenne schon an, was China geleistet hat. Aber ich darf nicht still sein, wenn ich sehe, dass Tibets Erbe verloren geht.
Interview: Natalie Kettinger