Sie lebt mit dem Herzen dieses Toten

Während Olympia verunglückt der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze. Sein Organ rettet einer 66-Jährigen aus Brasilien das Leben.
von  Georg Ismar
Die Brasilianerin Ivonette Balthazar (66) mit ihrer Mutter Ivette (86) und Sohn Fabio (43) in ihrer Wohnung in Rio de Janeiro. Rechts: Stefan Henze, Trainer der deutschen Kanu-Teams, ist am 15. August an den Folgen eines Unfalls gestorben.
Die Brasilianerin Ivonette Balthazar (66) mit ihrer Mutter Ivette (86) und Sohn Fabio (43) in ihrer Wohnung in Rio de Janeiro. Rechts: Stefan Henze, Trainer der deutschen Kanu-Teams, ist am 15. August an den Folgen eines Unfalls gestorben. © dpa

Während Olympia verunglückt der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze. Sein Organ rettet einer 66-Jährigen aus Brasilien das Leben.

Ein Teil von Stefan Henze lebt in einer kleinen 50-Quadratmeter-Wohnung in der Rua Antônio Basílio weiter. Zwei Kilometer entfernt vom Maracana-Stadion in Rio de Janeiro. Im Körper von Ivonette Balthazar (66).

In ihrem kombinierten Wohn- und Esszimmer steht neben dem Fernseher ein Plastik-Tannenbaum mit Glitzerlichtern, draußen brennt die Sonne. Als im Laufe des Gesprächs die Frage nach der Bedeutung des diesjährigen Weihnachtsfestes gestellt wird, kullern die Tränen. „Ich bin ihm so dankbar.“ Ihre Mutter, 86, verliert völlig die Fassung, sie muss den Raum verlassen.

Ivonette Balthazar denkt in diesem Moment aber auch an die Familie des toten deutschen Kanu-Trainers, die ein ganz anderes Weihnachten erleben wird. Balthazar muss noch Mundschutz tragen, der Bakterien wegen, deswegen kann sie auch nur gekochtes Obst und Gemüse essen. An ihrer Brust ist noch der lange Schnitt von der Operation zu sehen. So langsam kann sie aber auch wieder die Wohnung verlassen, ihr großes Ziel ist im April ein Zwei-Kilometer-Lauf, daran will sie mit anderen Organempfängern teilnehmen. Sie hat aus der Zeitung erfahren, wer durch seinen Tod ihr Leben rettete. Gemäß der brasilianischen Gesetze darf der Name des Spenders eigentlich nicht genannt werden. Aber was ist schon normal an dieser so tragischen Olympia-Geschichte?

Rückblick: 5. August, Rio de Janeiro feiert die Olympischen Spiele. Ivonette Balthazar ist zu diesem Zeitpunkt zu Hause dem Tod geweiht. Nach einem schweren Herzinfarkt 2012 wird es immer schlechter, nur noch 30 Prozent des Herzens funktionieren. „Ich lag die ganze Zeit im Bett, konnte mich fast noch nicht mal mehr anziehen.“ 18 Monate ist sie auf einer Liste für ein Spenderorgan. Sie wartet, wartet und wird immer schwächer.

Im Morgengrauen des 12. August ist ein Taxi zurück auf dem Weg Richtung Olympiadorf im Stadtteil Barra. An Bord Stefan Henze, Assistenztrainer der deutschen Slalom-Kanuten, und der Teambetreuer Christian Käding.

Auf der breiten Avenida das Américas kommt das Taxi bei hohem Tempo von der Straße ab, prallt gegen einen Masten. Henze erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, Käding wird leicht verletzt. Gegen den Fahrer wird später ein Verfahren wegen Totschlags eingeleitet.

Am 15. August klingelt um 17.30 Uhr das Telefon der 66-Jährigen

Henze wird zunächst in das Olympia-Hospital Lourenço Jorge im Stadtteil Barra gebracht – das hat aber gar keine neurochirurgische Abteilung. Er muss in eine Spezialklinik, das Hospital Miguel Couto, verlegt werden, sie ist 21 Kilometer entfernt. Henzes Eltern und sein Bruder reisen nach Rio. Die Ärzte kämpfen.

Am 15. August die unfassbare Nachricht: Der so geschätzte Henze ist tot. Die deutschen Fahnen in Rio werden auf halbmast gesetzt. „Das IOC trauert um einen wahren Olympier“, sagt IOC-Präsident Thomas Bach. Bei Olympia in Athen 2004 war Henze noch als Athlet dabei, gewann Silber im Zweier-Canadier, bevor er später Trainer wurde. Henze hat einen Organspendeausweis. Es gibt Grünes Licht für die Entnahme von Herz, Leber und Nieren.

Am 15. August um 17.30 Uhr klingelt bei Ivonette Balthazar das Telefon. 15 Minuten später ist sie schon im Instituto Nacional de Cardiologia (INC). Um 22 Uhr kommt Henzes Herz an, sechs Stunden dauert die Transplantation. Es gibt Probleme, weil das Athletenherz kleiner ist als ihres, es beginnen Monate, die immer wieder von Rückschlägen geprägt sind. Die frühere Verwaltungsangestellte muss jeden Tag unter anderem sechs Viagra-Pillen nehmen, damit sich die Arterien weiten. Aber jetzt geht es bergauf. „Es ist kaum zu beschreiben. Ich habe meine Freiheit zurückgewonnen.“ Beim deutschen Generalkonsulat in Rio haben sie, kurz nachdem sie erfahren hatten, wer der Spender ist, ein Dankschreiben für die Familie des Manns aus Halle übergeben.

Zwei Kinder hat sie, Fabio (43) und Renata (39), und fünf Enkel. Die Allerglücklichste scheint ihre Mutter zu sein, Ivette. Sie könnte die ganze Welt dafür umarmen, dass nicht die eigene Tochter vor ihr sterben musste. Weihnachten wird beim Sohn gefeiert, 18 Leute werden sie sein. Aber für Ivonette Balthazar ist heuer noch jemand dabei. „Mit ihm werden wir 19 sein.“

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