Sie können weder lesen noch schreiben

Wenn schon ein einfacher Fahrplan zur unüberwindbaren Hürde werden kann: Allein in München gibt es 60.000 Analphabeten. Wie die Unesco ihnen helfen will.
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Das richtige Schreiben als Schwerstarbeit: besonders ältere Menschen sind betroffen.
dpa Das richtige Schreiben als Schwerstarbeit: besonders ältere Menschen sind betroffen.

MÜNCHEN - Wenn schon ein einfacher Fahrplan zur unüberwindbaren Hürde werden kann: Allein in München gibt es 60.000 Analphabeten. Wie die Unesco ihnen helfen will.

Den Brief von der Bank hat Mondo einfach ignoriert. „Ich wusste, dass das von der Bank war – das habe ich am Zeichen rechts oben erkannt. Aber ich wusste nicht, ob das wichtig war.“ Mondo ist 25 Jahre alt, aber er kann kaum lesen und schreiben. Jetzt will er es endlich lernen, denn sein kleiner Sohn kommt bald in die Schule. „Meine Eltern und Großeltern konnten auch nicht lesen und schreiben“, sagt der Sinti. „Aber ich will ein besseres Vorbild sein.“

Mondo ist einer von rund vier Millionen Analphabeten in Deutschland. In Bayern wird die Zahl auf 600.000 geschätzt, in München leben demnach rund 60.000 Analphabeten. Heute, am Weltalphabetisierungstag der Unesco, soll auf das Problem aufmerksam gemacht werden.

Funktionaler Analphabetismus

Bei den allermeisten spricht man von „funktionalem“ Analphabetismus. „Sie können trotz Erfüllung der Schulpflicht nur so gut lesen und schreiben, wie Kinder in der ersten oder zweiten Klasse“, sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung. Oft erkennen sie zwar die Buchstaben, verstehen aber den Sinn der Worte beim Lesen nicht, können keine längeren Texte lesen. Im Alltag können sie mit der Schrift nicht umgehen.

„Es gibt sicher Menschen, die nur schwer lernen. Aber meist steckt hinter dem Schicksal Analphabetismus eine persönliche, soziale Katastrophe, die verhinderte, dass die Betroffenen als Kinder richtig lernten“, sagt Renate Günther-Greene. Sie hat Mundo und Nicole eine Jahr lang für die Dokumentation „Das G muss weg“ begleitet, die auf BR-Alpha lief. Nicoles Mutter zum Beispiel war starke Trinkerin, möglicherweise ist Nicole dadurch in ihrer Lernfähigkeit beeinträchtigt – besondere Aufmerksamkeit wäre da wichtig gewesen. Das Gegenteil ist passiert.

Die meisten Betroffenen versuchen, ihr Manko zu verbergen. „Ich hab meine Brille vergessen“, ist da ein typischer Trick. Die meisten Dinge des Alltags erledigt für Mundo die Freundin. Wenn er Schilder nicht lesen kann, fragt er die Leute auf der Straße, beim Fahrplan an der Bushaltestelle hat er sich gemerkt, dass „Sonn– und Feiertage“ immer ganz rechts steht.

Die Münchner Volkshochschule bot im vergangenen Semester 20 „Alphabetisierungskurse“ an, ab dem kommenden Semester soll es zusätzlich 20 „Grundwissens-Kurse“ geben, in denen Basiskenntnisse im Rechnen und im Umgang mit dem Computer vermittelt werden sollen.

Kein Job mehr ohne Schreibkenntnisse

„Es gibt kaum noch Arbeitsplätze, an denen Lese- und Schreibkenntnisse nicht erforderlich sind“, sagt Klaus Meisel, Managementdirektor der Münchner Volkshochschule. Als Beispiel nennt er den Lagerarbeiter, der jahrelang seine Aufträge am Tresen entgegen genommen hat und die Dinge dann herbeigeschafft hat - heutzutage muss er die Aufträge im PC dokumentieren.

Der Bundesverband Alphabetisierung weist seit langem daraufhin, dass die Anzahl der Betroffenen nicht sinken wird – im Gegenteil. In München verlässt jeder zehnte Jugendliche die Schule ohne Abschluss – viele davon landen in der Arbeitslosigkeit, wie viele davon mit der Schrift nur unzureichend umgehen können, ist nicht erhoben. „Aber erst wenn verlässliche Daten vorliegen, wird die Bildungspolitik wie beim PISA-Schock mit Reformen reagieren“, sagt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung.

Tina Angerer

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