Schon wieder Österreich

Vor zwei Jahren der Fall Kampusch und jetzt der Fall Amstetten: Die Welt blickt wieder auf das kleine Österreich. Warum geschehen ausgerechnet dort so abscheuliche Verbrechen, fragt man sich. Ist es Zufall oder nicht? – Der Versuch einer Antwort.
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Österreich im Blickpunkt der Welt - japanischer Journalist in Amstetten
ap Österreich im Blickpunkt der Welt - japanischer Journalist in Amstetten

Vor zwei Jahren der Fall Kampusch und jetzt der Fall Amstetten: Die Welt blickt wieder auf das kleine Österreich. Warum geschehen ausgerechnet dort so abscheuliche Verbrechen, fragt man sich. Ist es Zufall oder nicht? – Der Versuch einer Antwort.

„Ein desolates Bergland“ - So bezeichnete am Dienstag eine belgische Tageszeitung die Alpenrepublik, über die Papst Paul VI. einmal von einer „Insel der Seligen“ gesprochen hat. „Es kann kein Zufall sein“, schreibt das belgische Blatt weiter und meint damit die Tatsache, dass nach dem Fall der acht Jahre entführten Natascha Kampusch jetzt ein Verbrechen „Kampusch zum Quadrat“ schockiert, nämlich der unfassbare Missbrauchsfall von Amstetten.

Tatsächlich nicht? Kann es wirklich kein Zufall sein? Die Frage lässt sich schwer beantworten. Herkömmliche Erklärungsmuster greifen nicht angesichts der Dimension dieses Falles. Aber zumindest sollte man den Versuch einer Antwort wagen. Niederösterreich ist jenes Bundesland, in dem sich beide Fälle ereignet haben. Ihre Schauplätze, Strasshof bei Wien und Amstetten, liegen nur gute 100 Kilometer voneinander entfernt. Dazwischen erstreckt sich hügeliges Voralpenland, liegen kleine Dörfer, mächtige Weinberge, fließt die Donau. Eine Idylle auf den ersten Blick, ein uraltes Kulturgebiet, in dem prachtvolle Klöster und Schlösser von einer bedeutungsvolleren Zeit zeugen, einer vergangenen.

Erzkatholisch, erzkonservativ, obrigkeitshörig

Geblieben ist anderes: ein erzkatholisches Land und ein konservatives, in dem die Österreichische Volkspartei seit Jahrzehnten mit absoluten Mehrheiten regiert – und die Landeshauptmänner wie feudale Fürsten auftreten können. Pfarrer, Politiker, Lehrer: es ist dieses gesellschaftliche Dreieck, das – jedenfalls auf dem Land - die Obrigkeit repräsentiert. Und der gegenüber man eine gewisse Hörigkeit aufbringt. Man spricht ohnehin recht wenig, die Familie ist heilig, der Vater eine Respektsperson. Vielleicht hängt es mit diesem antiquierten Obrigkeitsdenken zusammen, dass man da nicht so schnell nachfragt, sollte einem etwas verdächtig vorkommen. Unsagbar schwer hat sich dieses Land auch getan mit der Aufarbeitung von Missbrauchsvorwürfen gegen einen Kardinal und dem Sexskandal im Priesterseminar von St. Pölten. Die notwendigen Entscheidungen fielen jeweils erst durch Intervention von außen.

Und doch macht nichts von alledem aus einem zufällig dort passierten Verbrechen ein zwangsläufig dort passiertes. Amstetten mag einzigartig sein, aber es könnte auch außerhalb Österreichs liegen, in Großstädten genauso wie auf dem flachen Land. In Ungarn hat ein Mann seine Tochter 13 Jahre lang gefangen gehalten, in Deutschland brachte eine Mutter neun ihrer Babys um, Belgien fühlt sich in diesen Tagen an den Kinderpornoring um Marc Dutroux erinnert.

Das Land Sigmund Freuds

Das lässt es für das kleine Österreich nicht weniger schlimm erscheinen. Diesem Land ist die Wahrnehmung durch das Ausland so wichtig. Und es schwankt dabei zwischen den Extremen einer "rührseligen Unterschätzung und grenzenlosen Grandiositätsgefühlen", wie der große Wiener Psyochotherapeut Erwin Ringel in seinem Standardwerk „Die österreichische Seele“ feststellte. Und es mag vielleicht Zufall sein: bemerkenswert ist es allemal, dass sich diese abscheulichsten Verbrechen in der Heimat Sigmund Freuds zugetragen haben. Er war es, der der Welt den Blick in die Tiefen der menschlichen Seele geöffnet hat.

Stephan Kabosch

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