Richtig streiten: Mediatorin erklärt Wege zur Konfliktlösung

München - Der Jahresbeginn ist die Zeit für Vorsätze. In der neuen AZ-Serie zeigen Experten, wie diese sich mit einfachen Mitteln umsetzen lassen. In dieser Folge erklärt eine Mediatorin, wie man sich miteinander auseinandersetzt, ohne Porzellan zu zerbrechen.

AZ: Frau Bruhn, ist streiten immer verkehrt?
ISABELLA BRUHN: Streiten ist gar nicht grundsätzlich verkehrt, es geht eher darum, wie man streitet. Für die eigene Haltung aufstehen und sie auch mal verteidigen, auch wenn es Gegenwind gibt, ist an sich mutig und gut. Streiten ist aber immer dann verkehrt, wenn es sehr verletzend oder sogar vernichtend wird und Schuldzuweisungen und Abwertung den Konflikt dominieren.
Wie bringe ich Kritik an, ohne den anderen zu verletzen?
Kritik sollte konstruktiv formuliert sein und einen Lösungsvorschlag enthalten, zum Beispiel "Schau mal, ich sehe, du gibst dir Mühe, aber so geht es vielleicht besser." Oder "Ich weiß, du meinst es nicht böse, aber für mich ist es schwierig wenn…, deswegen fände ich es gut, wenn wir …". Viele Menschen fühlen sich durch Kritik ertappt oder geschimpft und reagieren aus Stolz empfindlich. Deswegen hilft es bei schwierigeren Themen, wenn man sich zu einem Gespräch verabredet: "Du, es gibt da was, worüber ich mal mit dir sprechen möchte, hättest du Zeit?", dann sind beide vorbereitet.
In einem Streit sollte sich das Gegenüber ernstgenommen fühlen
Und was muss ich dann im Gespräch beachten?
Im Gespräch sollte man vor allem die eigene Beobachtung schildern und seine eigenen Überlegungen darlegen, zum Beispiel "Ich habe wahrgenommen… und deshalb habe ich mir gedacht…" Oft klären sich hier schon Missverständnisse und das Gespräch kann sich auf Augenhöhe entwickeln. Eine Antwort könnte nämlich sein, "Stimmt, aber außerdem hatte ich noch A, B und C, gemacht und das hast du nicht gesehen, und nur deshalb habe ich …". Wer erwartet, dass Kritik widerstandslos akzeptiert wird, wird vermutlich enttäuscht. Mehr Erfolg verspricht es, wenn man sein Gegenüber einlädt, sich mit der Anregung auseinanderzusetzen, zum Beispiel mit der Frage "Wie siehst du das?". Dann fühlt sich das Gegenüber ernstgenommen. Als guter Kritiker muss ich aber auch aushalten können, dass der andere meine Anregung nicht umsetzen will. Wobei konstruktive Kritik selten gar nicht beherzigt wird. Manchmal dauert es nur ein bisschen.
Wann muss man einen Streit abbrechen? Spätestens? Oder ab wann ist es sinnvoll?
Wenn man sich nicht mehr zuhört, dann macht Weiterreden eigentlich keinen Sinn mehr. Wenn man spürt, dass die körperlichen Anzeichen von Anspannung stark wachsen, sollte man reagieren. Klug wäre es, schon da zu erkennen, dass das Gespräch jetzt eher unsachlich wird und eine falsche Richtung nimmt. Man sollte dann unterbrechen und sich verabreden, es zu einem späteren Zeitpunkt mit weniger Emotionen weiterzuführen.
Geschrei im Streit ist "weder sinnvoll noch toll"
Und spätestens?
Spätestens ist schwierig. Viele Paare streiten sich, bis außer Geschrei eigentlich nichts mehr zu hören ist. Das ist weder sinnvoll noch toll, aber wenn man so eng zusammen lebt, muss es wohl auch mal so sein. Das ist noch kein Trennungsgrund. Aber man sollte sich danach auch wieder beruhigen und versöhnen. Wer sehr oft eskaliert streitet, sollte sich bei einem besseren Umgang mit Konflikten helfen lassen.
Wie lange darf ein Streit dauern, bevor der Konflikt wahrscheinlich nicht mehr zu lösen ist?
Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Jeder Mensch hat eine eigene Anlaufzeit und Ausdauer. Ich beobachte das sehr individuell.
Wie beginne ich ein Konfliktgespräch?
Indem ich ankündige, dass ich eines führen will.
Gibt es gute Einstiegssätze?
Hör mal zu, ich müsste mal mit dir reden, ich habe da nämlich ein Problem.
"Konfliktgespräche werden oft als Machtkampf geführt"
Was sind Tabus im Konfliktgespräch?
Man sollte ein Konfliktgespräch nicht mit einem Wutanfall verwechseln! Grobe Schimpfwörter und Herabsetzungen gehen nie. Ein Gespräch wird schwierig, wenn man so über die andere Person spricht, als wüsste man besser über sie Bescheid als die Person selbst. Das fühlt sich sehr schnell übergriffig an. Konfliktgespräche werden oft als Machtkampf um Rechthaben und Schuldzuweisung geführt. Menschen verwechseln dabei häufig Verantwortung mit Schuld. Das sollte man aber sorgfältig trennen. Schuldig ist, wer mit böser Absicht jemand anderem etwas antut. Hier gilt - ohne große Diskussion - Abstand nehmen, auch wenn es manchmal viel Aufwand bedeutet. Wenn aber jemand seiner Verantwortung nicht gerecht wird, hat das meistens viel weichere Gründe, an denen man gut gemeinsam arbeiten kann.
Gibt es ein Mittel gegen Rechthaberei?
Rechthaben ist ein außerordentlich beliebter Streitinhalt. Man kann diese Streitigkeiten damit beenden, dass man einfach beide Wahrnehmungen auf den Tisch legt und dann auch fürs Erste stehen lässt. Wir haben unterschiedliche Standpunkte und halten das jetzt mal aus. Das ist nicht für alle einfach. Ich zeige dann gerne symbolisch ein Buch. Je nach dem, wo man sitzt, sieht man den Buchrücken oder den Buchdeckel. Wir sprechen also über den gleichen Gegenstand, haben aber eine völlig verschiedene Wahrnehmung davon. Das macht das Dilemma anschaulich. Es ist eine Frage der Perspektive, nicht eine Frage der Wahrheit.
"Jede Wahrnehmung darf sein und hat ihren Platz"
Das löst aber noch nicht den Konflikt oder die Streitfrage.
Erst in einem zweiten Schritt werden die Wahrnehmungen noch einmal nebeneinander betrachtet und überprüft. Wenn sich nämlich die Emotionen abgekühlt haben, kann man über die unterschiedlichen Standpunkte auf der Sachebene verhandeln, Kompromisse erarbeiten, ganz neue Kombinationen entwickeln. Wichtig ist, dass jede Wahrnehmung sein darf und ihren Platz hat! Dann gibt es keinen unterschwelligen Kampf ums Gesehenwerden. All das - Schuldzuweisen, Rechthaben, Gesehenwerden - sind Kämpfe auf der emotionalen Ebene. Wenn die zur Ruhe kommt, kann die Sachebene meistens gut und kreativ bearbeitet werden.
Welche Regeln muss ich beachten, damit am Ende aus einem Streitgespräch ein gelöster Konflikt wird?
Pausen machen. Es ist völlig unglaublich, was in Pausen alles passiert. Zuhören. Wenn ich aufmerksam bin und gut zuhöre, wird die Atmosphäre sofort ruhiger. Nachfragen. Nicht interpretieren - nachfragen. Sonst gibt es nur Missverständnisse. Jeder spricht für und über sich selbst. Meine Wahrnehmung, mein Gefühl, meine Konsequenzen, meine Wünsche, meine Ideen.
Sorgen Pandemie und Lockdown für zusätzlichen Stress in Beziehungen?
Davon würde ich ausgehen. Es gibt sicher Unterschiede, weil manche Personen jetzt wesentlich stärker und existenzieller betroffen sind als andere. Aber diese Zeit fordert uns alle heraus. Vieles von dem, was wir jetzt erleben, werden wir erst nach einer gewissen Zeit verstehen und vielleicht auch wertschätzen.
Frühe Mediation kann viel Schaden vermeiden
Wann muss man fremde, professionelle Hilfe suchen, um einen Konflikt zu lösen?
So früh wie möglich. Je früher man sich die Hilfe holt, desto wirksamer ist sie. Das betrifft auch die Frage der Kosten. Wer früh kommt, lernt schnell und tief auch für die Zukunft und vermeidet viel Schaden. Mediation erst in Anspruch zu nehmen, wenn die Trennung oder Scheidung schon angedacht sind, ist oft zu spät.
Wie kann ein Dritter helfen?
Indem er hilft, die Ebenen zu sortieren und den sorgfältigen Umgang damit schult. Es sind sehr verschiedene Ebenen, die alle gleich wichtig sind.
Welche sind das?
Die emotionale Ebene, die meistens Beruhigung, manchmal auch Heilung braucht. Die Ebene der Selbstfürsorge, das ist die Ebene der Streitkultur. Wie gut kann ich für mich einstehen und sorgen. Bereite ich mich auf ein Gespräch vor, bin ausgeruht, habe Zeit, habe genug gegessen und getrunken, etc.? Wie empfinde ich Konflikte? Was habe ich da gelernt? Bin ich superempfindlich und mir platzt ständig der Kragen? Oder verschleppe ich zu lange und reagiere dann mit passivem Rückzug und kann vor lauter Ärger gar nichts mehr sagen? Oder habe ich Angst vor Streit und fresse alles in mich rein und werde langsam immer trauriger? Wie kann ich lernen, mit Unmut besser und souveräner umzugehen?
Gibt es weitere Ebenen?
Dann gibt es die Ebene der Erwartungen an das Gegenüber. Das ist die Beziehungsebene. Welche Vereinbarungen gibt es da und welche Erwartungen überfordern das System? Welche anderen Bereiche sind noch betroffen? Und die Sachebene kann gewissen äußeren Zwängen ausgesetzt sein. Das muss man dann auch noch anschauen können. Aber da würde man im normalen Gespräch selten streiten. Das wäre dann eher Verhandeln. Streit entsteht meistens auf den anderen Ebenen.