Prozess in Kassel: Wenn Lastwagen zur tödlichen Gefahr werden

Kassel/Frankfurt/Main - Als sich der Verkehr auf der Autobahn 7 südlich von Kassel staut, bleibt auch das Wohnmobil einer Familie aus Niedersachsen stehen. Wenige Augenblicke später kracht nahezu ungebremst ein Lastwagen von hinten in das Fahrzeug. Die Wucht ist groß, die Autobahn gleicht einem Trümmerfeld. Vater, Mutter und Tochter, die in dem Wohnmobil unterwegs waren, sterben bei dem Unfall am 12. Juli 2016.
Rund 16 Monate später steht der Lastwagenfahrer aus Tschechien wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht Kassel. Der 51-Jährige kann sich am Donnerstag nicht mehr an den Unfall erinnern. Er war selbst schwer verletzt und wochenlang im Krankenhaus behandelt worden.
"Er war in der Fahrerkabine seines Lastwagens eingeklemmt, seine Bergung durch die Feuerwehr hat über eine Stunde gedauert", berichtet Verteidiger Marcus Mauermann. Sein Mandant spricht von einer Tragödie, die ihn bis heute sehr belaste. Und er entschuldigt sich. Später weint er im Gerichtssaal, als ein Mediziner zu den Verletzungen der Opfer aussagt.
Vor allem zu geringer Abstand Grund für Unfälle
Die Staatsanwaltschaft vermutet Unachtsamkeit als Ursache. Ein medizinischer Gutachter soll nun noch klären, ob der Angeklagte möglicherweise wegen einer Herzerkrankung zum Zeitpunkt des Unfalls nicht reagieren konnte - fünf Monate vor dem Unfall hatte der Mann einen Infarkt erlitten. Der Prozess wird am 21. November fortgesetzt.
Nicht immer gehen Unfälle mit tonnenschweren Lastwagen derart schlimm aus. Generell gilt aber: Kann ein Lkw nicht mehr rechtzeitig bremsen, wird es gefährlich. Auffahrende Lastwagen machen ein Fünftel aller schweren Lkw-Unfälle aus und sind für 30 Prozent der dabei Getöteten verantwortlich - zu diesem Ergebnis kam die Unfallforschung der Versicherer.
Die Ursachen für Lkw-Unfälle sind vielfältig, wie ein Blick in die hessische Verkehrsstatistik für 2016 zeigt: zu hohe Geschwindigkeit, unvorsichtiges Wenden - vor allem zu geringer Abstand. Insgesamt wurden deswegen 1883 Unfälle mit Lastwagen in Hessen gezählt, ein Zuwachs von fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ein Grund für drängelnde Laster sei der Druck, die Ware rechtzeitig abzuliefern, berichtet Torsten Werner vom Polizeipräsidium Nordhessen: "Zeit ist Geld, das macht sich auf der Straße bemerkbar."
Viele Sicherheitssysteme werden umgangen
Der Lkw-Fahrer wird so zum Risikofaktor. Übermüdung werde häufig in Kauf genommen, Kontrollsysteme für Ruhezeiten würden "ausgeschaltet, ignoriert oder manipuliert", sagt Werner. Manche Fahrer machten sich an der Technik zu schaffen; andere hätten zwei Fahrerkarten, auf denen Lenk- und Ruhezeiten gespeichert werden. Sie könnten so die Polizei bei Überprüfungen täuschen.
Womöglich hätte ein Notbremsassistent einen Unfall wie auf der A7 verhindert. Allerdings können die Geräte auch ausgeschaltet werden. Sie seien meist mit dem Abstandsmesser des Lkw gekoppelt, erklärt der Geschäftsführer des Fachverbands Güterverkehr und Logistik Hessen, Klaus Poppe. Viele Lkw-Fahrer schalteten dieses Sicherheitssystem komplett aus, wenn der Abstand zum Vordermann zu gering werde - beispielsweise bei Überholmanövern oder in Baustellenbereichen.
Dem ADAC ist das ein Dorn im Auge. Er fordert Notbremsassistenten, die der Fahrer nicht manuell ausschalten kann. "Wenn überhaupt, dann nur für kurze Zeit und mit automatischer Wiedereinschaltung", teilt der Automobilclub mit. Ein optimaler Notbremsassistent hätte laut Unfallforschung der Versicherer in etwa 80 Prozent der Lkw-Auffahrunfälle dessen Folgen deutlich verringert - oder das Unglück ganz verhindert.
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