Professor Michael Brenner zum 80. Jahrestag der Wannseekonferenz: "Gefühlskälte und Gehorsam"

München - AZ-interview mit Michael Brenner: Der 58-jährige Geschichtsprofessor forscht auf den Gebieten Geschichte und jüdische Kultur. Er unterrichtet an der LMU in München und an der American University in Washington D.C..
AZ: Herr Professor Brenner, morgen vor 80 Jahren fand die Wannseekonferenz statt. Häufig wird damit die in der Nazi-Terminologie als "Endlösung" bezeichnete Vernichtung der europäischen Juden in Verbindung gebracht. Aber ist das historisch richtig? War für führende Nazis wie Hitler, Göring, Himmler oder Goebbels, allesamt damals schon seit vielen Jahren wüste Antisemiten, der Holocaust nicht schon lange vor der Wannseekonferenz beschlossene Sache?
MICHAEL BRENNER: Die Entscheidung, die europäischen Juden umzubringen, ist tatsächlich schon vorher gefallen. Die Historiker streiten dabei über den genauen Zeitpunkt. Man geht aber davon aus, dass das Schicksal der europäischen Juden spätestens mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 besiegelt war. Von da an war klar, dass die Juden nicht nur zu gettoisieren oder aus Europa zu vertreiben waren, sondern zu ermorden. Was die Wannseekonferenz versucht hat, ist die Details zu klären, die organisatorischen Fragen dieser Massenvernichtung. Zudem wollten die Organisatoren des Massenmords, wie Heydrich und Eichmann, wohl auch austasten, wie die zivilen Amtsträger auf diese Pläne reagierten.
Protokoll der Wannseekonferenz: "Diese Sprache ist kalt, sie ist unmenschlich"
Mit das Ungeheuerlichste an diesem ungeheuerlichen Verbrechen ist die Eiseskälte, mit der es begangen wurde und die gut nachzuempfinden ist, wenn man das Protokoll der Wannseekonferenz liest, das ja nur 15 Seiten lang ist. Die Bezeichnung "Maschinisten des Völkermords" trifft es gut.
Hier wird über das Schicksal von Millionen Menschen gesprochen, als ob es irgendwelche Objekte sind, derer man sich entledigen müsse. Man war sich durchaus bewusst, das merkt man auch an der Sprache, dass dort etwas geschieht, was sich gegen das moralische Grundempfinden aller Menschen richtet. Deswegen hat man auch versucht, viele der Ausdrücke zu verklausulieren und alles unternommen, damit dieses Protokoll nicht an die Öffentlichkeit gerät. Also ja, diese Sprache ist kalt, sie ist unmenschlich und zwischen den Zeilen wird ein Bewusstsein erkennbar, das aufzeigt, dass den Beteiligten durchaus klar war, was sie da eigentlich tun.
Glauben Sie, und das ist eine sehr subjektive Frage, dass einzelne Teilnehmer der Wannseekonferenz so etwas wie Scham oder schlechtes Gewissen plagte?
Nein, schlechtes Gewissen, das glaube ich nicht. Es ist wohl eher so, dass sie der Meinung waren, viele Außenstehende würden die Notwendigkeit nicht verstehen, mit der sie es betrachteten. Aber die Verklausulierung der Begriffe - von Mord oder umbringen ist ja nicht die Rede - zeigt schon, dass es eine bestimmte Hemmschwelle gab, die Dinge auszudrücken, die sie beschlossen haben.
Hätten Teilnehmer der Wannseekonferenz Widerstand leisten können?
Bei Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Initiatoren der Wannseekonferenz, seinem Adlatus Adolf Eichmann oder Roland Freisler, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium und später gefürchteter Präsident des Volksgerichtshofs, gibt es keinerlei Zweifel, was ihre Überzeugung betrifft. Aber wie ist das bei anderen Teilnehmern?
Andere wie beispielsweise Martin Luther, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, der einfach ein Bürokrat war, kann man genauso wenig entschuldigen wie einen Heydrich oder Eichmann. Im Gegenteil vielleicht sogar, weil sie sich ebenso als willige Vollstrecker dieser detailgetreuen Organisation des Massenmordes haben benutzen lassen.
Hätte einer aufstehen können und sagen: Nein, da mache ich nicht mit?
Erstmal muss man davon ausgehen, dass da keine Widerstandskämpfer dabei waren - ich sage das mal übertrieben. Man weiß, dass es in diesen Kreisen durchaus andere Möglichkeiten gegeben hätte, als aufzustehen und wegzugehen, anstatt aktiv die Endlösung mitzugestalten. Das Schlimmste, was ihnen wohl passiert wäre, wäre ein Abstieg in ihrer Karriere gewesen. Deswegen wäre aber keiner dieser Herren in ein Konzentrationslager deportiert worden oder hätte um sein Leben zu fürchten gehabt.
Eine beinahe philosophische Frage, die sich im Zusammenhang mit der Wannseekonferenz und dem gesamten Holocaust aufdrängt - sicher und ganz besonders auch Ihnen als Historiker, der sich seit Jahrzehnten mit der Thematik befasst: Wie können Menschen zu so etwas fähig sein?
Je länger man sich damit beschäftigt, desto schwieriger wird es, diese sicher essenzielle Frage zu beantworten. Das ist das Frustrierende für Historiker. Meine Antwort wäre, dass es nicht unbedingt nur der fanatische Antisemitismus war, der sicher bei einigen eine Rolle spielte. Aber - und jetzt komme ich ins Psychologische - bei den meisten war es wohl mehr ein Absterben der Gefühle, eine Gefühlskälte. Es war die Erziehung, eine Werteumkehr, die über Generationen unter bestimmten Menschen bestand und die dazu geführt hat, kein Mitgefühl mehr zu entwickeln für bestimmte andere Menschen. Ich sage das tatsächlich im Vergleich zu manchen anderen Formen des Faschismus wie zum Beispiel in Italien. Auch dort hatte der Faschismus schreckliche Ausformungen, ohne jedoch solche Dimensionen zu erreichen, wie es der Nationalsozialismus in Deutschland getan hat. Aber solche Fragen müssen eigentlich Psychologen beantworten.
Wie gefährlich sind bestimmte Strömungen am rechten Rand heute?
Machen es sich Historiker da nicht zu leicht, wenn sie vor solchen Fragen kapitulieren?
In seiner Posener Rede im Oktober 1943 hat einer der Hauptverbrecher des Holocausts, Heinrich Himmler, vor hohen SS-Offizieren zwar direkt von der Ausrottung der Juden gesprochen, aber gleichzeitig auch davon, dass man dabei "anständig" bleiben müsse. Wenn man hört, dass jemand bei millionenfachem Mord anständig bleiben möchte, ja, da fehlen einem - zumindest als Historiker - die Worte. Aber natürlich befreit uns das nicht von der Pflicht, so wie jedes andere historische Kapitel auch dieses kritisch auszuleuchten, mit anderen historischen Ereignissen zu vergleichen und zu interpretieren. Und das geschieht ja auch ständig. Zu keinem anderen Kapitel der Weltgeschichte gibt es so viel historische Literatur.
Zwei besonders für die jüngeren Generationen wichtige Fragen, die sich daran anschließen: Halten Sie es für denkbar, dass Verbrechen ähnlicher Größenordnung wie in Deutschland noch einmal geschehen können? Und halten Sie die Deutschen für besonders gefährdet, was radikale Ideologien wie den Nationalsozialismus betrifft?
Ich glaube, dass die Deutschen in den 30er und 40er Jahren dafür anfälliger waren als andere Völker. Tatsache ist nun einmal: Der Holocaust wurde von Deutschland aus orchestriert. Das lässt sich nicht abstreiten, auch wenn andere natürlich daran beteiligt waren. Das Erstaunliche ist ja, dass in vielen anderen Ländern der Antisemitismus stärker war als in Deutschland, hier aber vielleicht die Gefühlskälte und der Befehlsgehorsam größer waren. Das lässt sich ja nicht empirisch bemessen und vor allem sagt es nichts über das Deutschland von heute aus. Da hat sich vieles grundlegend geändert, und zwar gerade als Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit deren schwärzesten Kapiteln. Und deswegen - jetzt komme ich in die Gegenwart - ist es auch so gefährlich, wenn bestimmte Strömungen am rechten Rand heute den jahrzehntelangen kritischen Umgang in der deutschen Gesellschaft mit dieser Geschichte infrage stellen.
Münchner Historiker: "Die meisten jüdischen Häftlinge kamen in Auschwitz ums Leben"
Jetzt haben wir über die Täter, ihre Taten und die Folgen gesprochen - nicht jedoch über die Millionen von Opfern.
Im September 1941, also schon mehrere Monate vor der Wannseekonferenz, gab es die Einführung des Judensterns, des gelben Sterns, den die Juden zu tragen hatten. Das war ein ganz wichtiger Einschnitt für all die Menschen, die in Deutschland und auch in den besetzten Gebieten nun für jeden erkennbar und ausgeliefert waren. Zu dieser Zeit gab es auch die ersten Massendeportationen, zum Beispiel von Wien, Luxemburg, Prag und Berlin ins Getto nach Lodz, nach Theresienstadt oder nach Riga. Einige dieser Deportationen endeten sofort in Massenerschießungen. Was sich dann ändert, sind die Dimensionen. Ab 1942 werden systematisch Juden aus ganz Europa in die Lager, auch Vernichtungslager, im besetzten Polen gebracht. In den Monaten und Jahren nach der Wannseekonferenz rollen unzählige Züge nicht nur aus Deutschland und Frankreich, sondern auch aus Griechenland, Italien, den osteuropäischen Ländern, selbst aus Norwegen. Die meisten von ihnen hatten das KZ Auschwitz-Birkenau als Ziel.
Dort fand an der Rampe dann die berüchtigte Selektion statt.
Richtig. Auf der einen Seite konnte man durch harte Arbeit, besser Sklavenarbeit, noch eine Weile überleben, auf der anderen Seite ging man gleich in die Gaskammer. Die meisten der deportierten jüdischen Häftlinge kamen in Auschwitz ums Leben, aber einige wenige überlebten auch, weil es dort noch Sklavenarbeit zu verrichten gab. Es gab andere Lager wie Belzec, Sobibor oder Treblinka, die reine Vernichtungslager waren. Dort gab es gar keine Zwangsarbeit - und praktisch keine Überlebenden.
Ist es diese perfekt organisierte Ermordung von Millionen von Menschen, die den Holocaust von anderen Genoziden unterscheidet?
Ja, es gibt ja dieser Tage gerade eine aktuelle Debatte über Kolonialismus und den Holocaust. Ich will damit in keiner Weise in Abrede stellen, dass es auch andere schreckliche Verbrechen in der Geschichte gab, aber dieser hochbürokratisierte, maschinisierte Massenmord, der vor Babys, Kleinkindern und Greisen keinen Halt machte, ist in diesen Ausmaßen einmalig. Der Wahn, die Juden vernichten zu müssen, hatte für die überzeugten Nationalsozialisten solch einen Stellenwert erreicht, dass sie mit dessen Organisation sogar den militärischen Erfolg im Krieg infrage stellten. Man stelle sich nur vor, wie viele Energien, Arbeitskräfte und Transportmittel mitten im Krieg in die Ermordung von sechs Millionen Menschen geflossen sind! Als ganz Deutschland schon in Trümmern liegt, hat Hitler einen Tag vor seinem Suizid in seinem sogenannten "Politischen Testament" nichts Besseres zu sagen gehabt, als immer noch seinem Judenhass Ausdruck zu geben. Ohne diese zentrale Rolle, die dem Antisemitismus in der nationalsozialistischen Ideologie zukam, können wir den Mord an den Juden nicht verstehen.
Unter dem Titel "20. Januar 1942. Was bleibt? - Die Besprechung am Wannsee in Geschichte und Gegenwart" findet vom 19. bis 21. Januar 2022 eine internationale und interdisziplinäre Tagung statt. Anmeldungen für diese hybride Veranstaltung unter ghwk.de/de/termine/anmeldungen