Popstar-Bruder Dietrich Grönemeyer: "Die Zukunft gehört einer mitfühlenden Medizin"

AZ-Interview mit Dietrich Grönemeyer: Der 69-jährige Bruder des Sängers Herbert Grönemeyer ist Arzt, Medizinunternehmer und hat mehrere Bücher geschrieben.

AZ: Herr Professor Grönemeyer, in Ihrem Buch "Medizin verändern" gehen Sie mit Ihrer eigenen Zunft hart ins Gericht: zu viel Fachjargon, zu wenig Aufklärung und Empathie. Ist es wirklich so schlimm?
DIETRICH GRÖNEMEYER: Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel Sie auf das Problem schauen. Ich bin davon überzeugt, dass wir immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben. Aber: Die Inhalte und Abläufe müssten dringend geändert werden. Wir brauchen eine Medizin, in der individuell und ganzheitlich auf Patienten eingegangen wird. Prävention, Aufklärung und Eigenverantwortung müssen zudem eine entscheidende Rolle spielen. Und: Die Zeit für niedergelassene "Einzelkämpfer" läuft ab, die Zeit für "Teamplayer", die im fachärztlichen Verbund arbeiten, bricht unwiderruflich an.
Grönemeyer: "Der heutige Medizinbetrieb ist straff ökonomisch geprägt"
Viele Patienten haben das Gefühl, der Arzt nehme sich zu wenig Zeit für sie, oft verstehen sie auch nicht, was er ihnen genau sagen will. Wie kann man das lösen?
Indem wir den Patienten als das sehen, was er ist: ein fühlendes und denkendes Wesen, das in seiner Gesamtheit von einer Krankheit betroffen ist. Wir müssen jede kranke Person als Individuum sehen. Mit einer Krankheit, die vielleicht auch aus seiner Lebensgeschichte und Lebenseinstellung resultiert und die nun das Leben und die Einstellung dazu umgekehrt beeinflusst. Das setzt voraus, dass wir dem ärztlichen Gespräch wieder viel mehr Bedeutung geben. Der Patient oder die Patientin als Mensch und Dialogpartner des Arztes findet in der modernen, immer unpersönlicher werdenden und zunehmend "datenorientierten" Medizin immer weniger Beachtung.
Wodurch wird es Ärzten schwer gemacht, mehr auf ihre Patienten einzugehen?
Der heutige Medizinbetrieb ist straff ökonomisch geprägt und durchorganisiert. Das ist zunächst nicht so problematisch, aber: Zuwendung, psychosomatisch-sozial orientierte Gespräche und persönliche Untersuchungen des Körpers, ein vorsichtiger Behandlungsbeginn mit Hausmitteln oder Naturmedizin, die eine begleitende Behandlung des Arztes erfordern würden, kommen so viel zu kurz. Deshalb müssen wir der "sprechenden Medizin" viel mehr Wert zumessen. Auch - und gerade - finanziell. Aus diesem Grund steht eine Renaissance des Systems der Hausärzte und Hausärztinnen an. Sie sind die idealen Gesundheitsmanager und medizinischen Co-Piloten der Menschen.
Treibt die fehlende Zeit und Empathie von Ärzten Menschen in die Arme von "Scharlatanen" - einfach, weil diese sich mehr um die Menschen kümmern?
Das ist ein Problem. Denn nur allzu oft wird den Menschen in der Not das Blaue vom Himmel herunter versprochen, zumal im Internet. Mit Globuli und Ringelblumensalbe ist aber keiner Krebserkrankung beizukommen. Der seriöse Alternativ-Mediziner zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Grenzen kennt und weiß, wann er einen Patienten an diesen oder jenen Facharzt überweisen muss. Umgekehrt täten auch viele Schulmediziner gut daran, dem einen oder anderen eine naturheilkundige Behandlung zu empfehlen, bevor sie Antibiotika verschreiben oder gar zum Skalpell greifen. Für den guten alten Hausarzt verstand sich das von selbst. Deshalb bin ich so traurig und ärgerlich, dass dieser wunderbare Beruf im Grunde wegrationalisiert wird - nicht zuletzt von der Politik.
"Mein Rat: Drei Fragen aufschreiben, auf die man Antworten will"
Ein oft geäußerter Vorwurf an Mediziner ist, dass sie lediglich die Krankheit behandeln, statt auf Prävention zu setzen. Wie stehen Sie dazu?
Genau dort müssen wir ansetzen, der Prävention gehört die Zukunft. Präventionsprogramme und Check-Ups vom ersten Tag der Befruchtung im Mutterleib bis zum letzten Lebenstag - "von eins bis hundert", sage ich immer - tragen wesentlich dazu bei, weil erst dadurch effektiv Krankheiten verhindert werden. Früh erkennen, was später unheilbar wird. Auf diese Weise würden auch Kosten für die Solidargemeinschaft eingespart.
Wie könnte ein stärkerer Fokus auf Prävention im Gesundheitswesen gelingen?
Hier wird enorm investiert werden müssen, damit es nicht bei Ankündigungssprüchen bleibt und die Kosten durch verspätete Behandlungen später explodieren. Seit weit über einem Jahrzehnt stehen effektive Frühwarnsysteme bereit. Doch eine Gebührenziffer, die vor allem den menschlichen und technischen Aufwand angemessen berücksichtigen würde - zumal für eine präventive Untersuchung - sucht man in der ärztlichen Gebührenordnung vergeblich. Zentral ist auch, gerade im Sinne der Prävention, die engere Zusammenarbeit der beteiligten Ärzte - zwischen Hausarzt, niedergelassenen Fachärzten und Krankenhaus und - wie ich es mir vorstelle - organspezifische Therapie-Zentren, in denen Spezialisten verschiedener Disziplinen im Team zusammenarbeiten.
Das muss sich laut Dietrich Grönemeyer ändern
Was muss sich aus Ihrer Sicht dringend ändern, um eine menschenfreundlichere Medizin zu ermöglichen?
Wir müssen uns auf das konzentrieren, was uns in diesem Beruf wichtig ist. Es ist der Wunsch, Menschen zu heilen, ihnen Wohlbefinden zu ermöglichen, sie in einer schwierigen medizinischen Lage zu unterstützen. Dafür müssen wir den Menschen in seiner Gesamtheit sehen - und um dies zu tun, müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen wie Zeit und Entlohnung geschaffen werden. Die Zukunft gehört einer sprechenden, hörenden und mitfühlenden Medizin als Grundlage einer liebevollen und humanen Weltmedizin, wie ich sie einmal getauft habe.
Was kann jeder Einzelne tun, um einen Arztbesuch für sich besser und verständlicher zu gestalten?
Ich habe da einen generellen Ratschlag: Wenn Du zum Arzt oder zur Ärztin gehst, schreibe Dir vorher drei Fragen auf, die Du von ihm oder ihr beantwortet haben willst. Wichtig ist, dass Patienten und Patientinnen sich bei "ihrem" Arzt, "ihrer" Ärztin menschlich wie fachlich gut aufgehoben, respektiert und liebevoll fürsorglich "behandelt" fühlen. Deshalb muss ich die Gewissheit haben, dass mein Arzt oder meine Ärztin mein Anliegen ernst nimmt. Und den Mut haben, wenn ich nicht zufrieden bin, dies persönlich anzusprechen oder einen neuen Arzt aufzusuchen.
"Medizin verändern" ist seit 9. November im Handel. Ludwig Verlag, 288 Seiten, 22 Euro