Nur fliegen ist schlimmer
Jeder Dritte leidet unter Flugangst. AZ-Reporter Timo Lokoschat hat eine Woche vor den Ferien in einem Seminar erfahren, was wirklich hilft.
Nein, ich habe keine Flugangst. Ich will einfach nur gut vorbereitet sein. Putze deshalb vor jeder Reise penibel meine Wohnung, damit Angehörige, die sie nach meinem nahezu sicher bevorstehenden Tod renovieren müssen, keinen Schock kriegen. Bitte meinen Kollegen Jan Chaberny, den Nachruf in der AZ nicht zu blumig zu formulieren. Überlege, wie viele neue Follower ich nach meinem Ableben auf Twitter gewinne. Scanne die anderen Fluggäste schon beim Einchecken auf ihre Einsame-Insel-Tauglichkeit und weise ihnen im Geiste passende Aufgaben zu (Feuermachen, Beeren sammeln, Durchdrehen...).
Im Ernst: Ein bisschen Flugangst ist da wohl schon vorhanden. Was also tun? Gar nicht mehr fliegen? Alkohol? Drogen? Von Google kommt der Tipp, es doch einmal mit einem Seminar für „Entspanntes Fliegen“ zu probieren, das die Agentur Texter-Millot (www.flugangst.de) mit Lufthansa am Münchner Flughafen anbietet.
Das öffentlich zuzugeben, ist mir überhaupt nicht peinlich. Schließlich leidet laut Umfragen fast jeder Dritte an „Aviophobie“, wie der Fachausdruck für die Angst über den Wolken lautet – 25 Millionen Menschen in Deutschland.
Basti ist seit 20 Jahren nicht geflogen. Seine Freundin: Stewardess
Unter ihnen Unternehmensberater Stefan. Der 41-Jährige gehört zu den zehn nervös wirkenden Seminarteilnehmern und erzählt uns bei der Vorstellungsrunde, dass er nachts acht bis zehn Stunden von München nach Hamburg fährt – und das nur, um nicht 60 Minuten im Flugzeug verbringen zu müssen. Übermüdet kommt er dann beim Kunden an. „Das ist quasi eine Berufsunfähigkeit“, klagt er und die Psychologin Antonia Arboleda-Hahnemann (41) nickt. Sie leitet den zweitägigen Wochenendkurs, der 780 Euro kostet und im „Flight Operation Center“ am Flughafen stattfindet, da, wo sonst die Lufthansa-Crews die Flüge durchsprechen.
Im Bürostuhlkreis sitzt auch Grafiker Basti (36), den seine Freundin, eine Stewardess, ins Rennen geschickt hat. Vor drei Wochen wollten sie nach Verona – zwei Meter vor dem Einstieg machte Basti kehrt, klatschnass und überwältigt von seiner Angst vor engen Räumen. Seit 20 Jahren hat er kein Flugzeug mehr betreten. Um zum Seminar in den dritten Stock zu gelangen, nimmt er die Treppe.
Schlaftabletten und Remy Martin
Vorstandsassistentin Annette (26) probierte es mit Schlaftabletten, Rentner Kurt (67) mit Remy Martin – ohne Erfolg. Finanzbuchhalterin Gaby (39) ist traumatisiert von einem Küchenbrand an Bord: Bei der Evakuierung vor drei Jahren stürmten die anderen Fluggäste panisch aus der Maschine, knallten ihrem zweijährigen Sohn mehrere Aktenkoffer an den Kopf, erzählt sie. „Diese Unmenschlichkeit hat mich erschüttert, gar nicht so sehr das Flugerlebnis.“
Viel Arbeit also für die Kursleiterin. Los geht’s mit Theorie. Wir erfahren, dass im Grunde genommen noch der Neandertaler ins uns steckt, dessen Programmierung für die Mammutjagd optimal sei und nicht für die Boeing 747. Evolutionsgeschichtlich betrachtet ist daher nicht die Flugangst erstaunlich, sondern eher die Selbstverständlichkeit, mit der man heute in einer Stahlröhre mit Tempo 900 durch die Luft rast.
Um unsere Fluchtinstinkte zu überlisten, sitzen wir mit geöffnetem Gürtel und geschlossenen Augen so locker wie möglich auf unseren Stühlen und machen an den neunten Monat erinnerende Übungen, die uns im Flieger helfen sollen. Ein Trick sei, die Muskeln für zehn Sekunden an- und dann wieder zu entspannen. Mit dem Ziel, die „passive Angststarre“ zu vermeiden.
Tragflächen brechen nicht ab und Turbulenzen sind nicht gefährlich
Beim Mittagsessen setzt sich plötzlich ein sehr freundlicher Mann mit vier goldenen Streifen auf den Ärmeln zu uns. Es ist Dieter Dworznik (59), Pilot der Lufthansa, der der Angst durch Wissen begegnen will. Mit ihm betreten wir einen Airbus 319, der gerade in einer fußballfeldgroßen Garage gewartet wird.
Dworznik erzählt kompetent und bodenständig von Turbulenzen, die niemals gefährlich seien und Tragflächen, die niemals abbrechen. „Luftlöcher“ gebe es nicht, und selbst wenn alle Triebwerke ausfallen, könne ein tonnenschweres Flugzeug immer noch bis zu 200 Kilometer weit segeln.
Am nächsten Morgen tanzen und hüpfen wir zu Nelly Furtados EM-Song „Forza“, bilden wie Fußballer einen Kreis, rufen „Ommmmmmmm“ und „Wir schaffen das!“. Es geht um den Flug LH 048 nach Hamburg und zurück. Alle wirken angespannt. „Ich habe mich von meinem Freund verabschiedet als ob ich ihn nie wiedersehe“, sagt Annette, die Vorstandsassistentin, der ihre Firma den Kurs spendiert hat.
Die informierte Lufthansa-Crew empfängt uns mit Gummibärchen in Flugzeugform. Ich sitze zwischen dem Unternehmensberater Stefan und Moni (39), einer Spargelhändlerin, die am liebsten selber ans Steuer will. „Beifahrersyndrom“ nennt die Psychologin das. Beim Start ergreift Moni meine Hand und drückt ganz fest. Als es ruckelt, gehen wir leicht mit den Bewegungen des Fliegers mit. Das hilft.
„Wir stürzen ab“, ruft sie, weint und würgt ihr Stofftier
Auf einem „Hörflug“ von CD haben wir außerdem gelernt, die Geräusche richtig einzuordnen. „Ah, das ist das Fahrwerk“, sagt Moni und lehnt sich zurück.
Da springt plötzlich Annette auf. „Wir stürzen ab", ruft sie, am ganzen Körper zitternd, weint und würgt ihr Stofftier. Die Normalreisenden schauen irritiert. Die Psychologin eilt herbei, erklärt, dass lediglich der Schub auf 30 Prozent reduziert wurde und man deshalb nichts mehr höre – vergeblich. Der Pilot sei zu jung und die Stewardess habe skeptisch geschaut, meint Annette. Sie gehört zu den durchschnittlich 20 Prozent, bei denen das Seminar nicht oder keine Wunder wirkt.
„Annette, schauen Sie mich an", sagt die Psychologin immer wieder. Und beruhigt: „Das ist kein komisches Licht, das ist die Sonne!" Irgendwann nimmt die Crew Annette mit in die Küche. Dort soll sie sich beim Geschirr wegräumen ablenken.
Ich finde jetzt zum Glück nur noch den Tomatensaft furchterregend. Auch beim Rest der Gruppe herrscht nach der Landung in München größtenteils eine fast euphorische Stimmung, wie bei Bergsteigern nach dem Gipfelsturm.
In der S-Bahn blättern Moni und ich im Reiseteil der AZ. Nun hat das auch endlich Sinn.
Timo Lokoschat