Natascha Kampusch: Kein Rückweg ins Leben

Auch dreieinhalb Jahre nach ihrer Befreiung aus einem Kellerverlies bei Wien findet die 21-Jährige keinen Frieden in Freiheit. Jetzt will sie die Mutter ihres Peinigers treffen.
Sie sah den Mann da vorne am weißen Kastenwagen. Und überlegte noch, die Straßenseite zu wechseln. Aber dann ging sie weiter. Er packte sie. „Ich wollte schreien", erinnert sie sich, „aber es kam kein Laut". Und: „In dem Moment habe ich mit dem Leben abgeschlossen."
Das Leben ging weiter, es war ein achteinhalb jähriges Martyrium im Keller, in den Händen des Entführers Wolfgang Priklopil. Seit dreieinhalb Jahren ist Natascha Kampusch wieder frei (siehe rechts). Doch das normale Leben, das findet sie nicht. Heute will sie sich vor allem aus der medialen Umklammerung befreien - indem sie den Weg in die Medien sucht.
In Hamburg stellt sie die TV-Doku „Natascha Kampusch - 3096 Tage Gefangenschaft" vor. Warum in Deutschland? „Ich wollte das einmal von einer anderen Seite betrachtet sehen“, sagte sie. In ihrem Heimatland hätten die Berichte über ihr Schicksal bisher immer einen „Nachrichten-Wegwerf-Charakter“.
Natascha Kampusch berichtet im Film aufreizend ruhig und gefasst über ihre lange Leidenszeit. In ihrem 4,78-Quadratmeter-Verlies in Strasshof (bei Wien, 8000 Einwohner) hat sie über acht Jahre lang nur eine Bezugsperson gekannt, ihren Entführer. „Er hat mir das Weinen verboten, er wollte keine Tränen sehen. Mit meinen Handrücken hat er mir die Tränen weggewischt, wenn ich trotzdem weinte." Er habe sie gezwungen, ihm direkt in die Augen zu gucken - oder auf den Boden. „Er wollte die totale Macht über mich."
„Er hat mir die ganze Zeit eingeredet, dass ich nichts kann und nichts wert bin. Wenn er mich aus dem Keller in seine Wohnung holte, hat er mich in seinen Haushalt integriert und mich als Arbeitstier eingespannt. Er hatte eine Putzsucht. Wenn ich meine Fingerabdrücke am Türrahmen oder auf dem Tisch hinterließ, hat er mich misshandelt."
Die ersten beiden Jahre - das Opfer hatte längst jedes Zeitgefühl verloren, konnte nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden - verbrachte Kampusch ohne jeden Außenkontakt. Dann stellte er ihr schließlich ein Radio und einen Videorecorder hin. „Das Radio war für mich die Ersatzfamilie." Wenn Priklopil Natascha in den Garten ließ, nahm sie sich als Andenken Sträucher mit in ihr Verlies. „Das war immer toll." Wie sie die vielen Folterjahre überhaupt überleben konnte? „Ich habe ihm von Anfang an alles verziehen. Wäre ich voller Hass, wäre ich phsychisch zu Grunde gegangen.
Natascha Kampusch will ihr Erbe selbst verwalten. Das Haus gehört ihr, sie hat Anspruch auf Schadenersatz: „Ich will das Verlies zuschütten lassen.“ Dort ist sie nach ihrer Befreiung ein, zweimal zurückgekehrt: „Es war so, als wenn man in sein Jugendzimmer kommt. Es war ja mein Zuhause."
Heute, über drei Jahre nach ihrer Selbstbefreiung lebt sie allein - „es gibt Menschen, die fast Freunde sind“. Der Weg ins normale Leben sei schwer. Im nächsten Jahr will sie ihren Mittelstufenabschluss machen.
In den nächsten zwei Monaten will sich Natascha Kampusch mit der Mutter des Täters treffen. „Da bin ich sehr gespannt drauf."
Ob es einen zweiten Täter gab? Peter Reichard (63), der Autor der bewegenden NDR-Doku: „Ob es Mitwisser gab, kann sie nicht wissen. Aber es wird noch einen zweiten Kampusch-Film geben. Spannend, was sich um diesen Fall rankt."
Werner Beier
(Sendetermin: 25. Januar 2010, 21 Uhr, ARD).