Nach "Sandy": US-Ostküste droht Kältewelle, Notstand in Haiti
New York/Port-au-Prince - Während an der US-Ostküste weiter Millionen ohne Strom und Treibstoff auskommen müssen und nun auch noch eine Kältewelle droht, rief die Regierung Haitis am Samstag den Notstand aus. Die Regenfälle des Wirbelsturmes hatten in weiten Teilen des Karibikstaats die Ernten zerstört. Nun werden in dem noch immer unter der Erdbebenkatastrophe von 2010 leidenden Land die Lebensmittel knapp. Außerdem nimmt die Zahl der Cholera-Fälle nach Angaben von Hilfsorganisationen wieder zu.
Die Zahl der Toten nach dem Wirbelsturm stieg derweil nach Angaben des Nachrichtensenders CNN allein in den USA auf 106. Hinzu kommen 2 Todesopfer in Kanada und 67 weitere in der Karibik, die meisten davon in Haiti. Und vielerorts geht die Suche nach Vermissten weiter.
Auch der Ablauf der US-Präsidentenwahl am Dienstag dürfte an der Ostküste im Zeichen des Sturms stehen. Bürger in den betroffenen Gebieten müssen sich darauf einstellen, ihre Stimme in einem Militärlastwagen oder in Zelten abzugeben, berichtete die "New York Times". Die Wahlen würden in den Katastrophengebieten aber auf jeden Fall stattfinden, zitierte die Zeitung am Samstag Lokalpolitiker. Eventuell können Bürger auch per E-Mail oder Fax abstimmen, meldete der Sender CNN. Auch das Eintreffen der Briefwahl-Stimmen könnte sich verzögern, da die Post sturmbedingt tagelang liegengeblieben ist.
Zusätzlich zu Stromausfällen und fehlendem Benzin macht nun auch die Kälte den Menschen zu schaffen. Bis Mitte kommender Woche soll es mit Temperaturen um die sechs Grad empfindlich kalt bleiben. Dann droht ein Kältesturm die Nerven der Betroffenen noch weiter zu strapazieren: Der Sturm, der jedoch deutlich schwächer ist als "Sandy", entwickelt sich Meteorologen zufolge derzeit über dem Atlantik. Ob er tatsächlich die US-Küste treffen wird, war zunächst aber noch unklar.
Nach wie vor haben fast drei Millionen Menschen an der Ostküste keinen Strom, auch Benzin und Heizöl sind knapp. Viele Menschen in den Staaten New Jersey und New York harren in ihren eiskalten Wohnungen aus. Aus einigen Gegenden kamen Berichte über Plünderungen. "Ich habe heute drei Stunden an einer Tankstelle gewartet", sagte ein New Yorker Taxifahrer. "Wie soll ich Geld verdienen, wenn ich kein Benzin habe und meine ganze Zeit an der Tankstelle verbringe?"
US-Präsident Barack Obama ordnete Treibstofflieferungen in die Katastrophengebiete an. Das Verteidigungsministerium wurde angewiesen, gut 80 Millionen Liter an bleifreiem Benzin und Diesel aufzukaufen und auszuliefern, wie aus einer Mitteilung der US-Behörde für Katastrophenmanagement hervorging.
New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo sagte am Samstag, dass mehr als 30 Millionen Liter Treibstoff bereits nach New York gebracht worden seien. Weitere 105 Millionen Liter seien auf dem Weg. New Jerseys Gouverneur Chris Christie ließ das Benzin rationieren - im täglichen Wechsel dürfen jetzt nur noch Besitzer von Nummernschildern mit gerader oder ungerader Endziffer tanken.
In anderen Teilen normalisierte sich das Leben dagegen weiter. Der südliche Teil Manhattans wurde größtenteils wieder ans Stromnetz angeschlossen. Weitere Parks in der Millionenmetropole öffneten. Rund 80 Prozent des U-Bahnnetzes war offiziellen Angaben zufolge wieder in Betrieb, und auch die vor allem bei Touristen beliebte Fähre nach Staten Island fuhr wieder. Viele New Yorker taten sich spontan zusammen, um zu helfen. Sie sammelten abgebrochene Äste in Parks auf oder verteilten Wasser und Essen an Bedürftige.
In Haiti richtete "Sandy" nach vorläufigen Schätzungen des nationalen Koordinationsbüros für Lebensmittelsicherheit (CSNA) einen Schaden von über 104 Millionen Dollar an, wie die Zeitung "Le Nouvelliste" online berichtete. Der Notstand erlaube es der Regierung, Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen zu helfen und dem drohenden Hunger zu begegnen, sagte Kommunikationsministers Ady Jean Gardy.
In Haiti hatte im Januar 2010 ein schweres Erdbeben die Hauptstadtregion und weite Teile des Südens zerstört. Über 220 000 Menschen starben. Trotz umfassender internationaler Hilfe leidet das Land noch immer unter den Folgen der Katastrophe, etwa unter der Cholera, die im Oktober desselben Jahres ausbrach und an der seitdem über 7600 Menschen gestorben sind. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen hat sich die Zahl der Neuinfektionen in den Tagen nach dem Sturm fast verdoppelt.