Nach dem Brand Mahnung zu Besonnenheit

Die Brandkatastrophe von Ludwigshafen bekommt eine immer deutlichere politische Dimension, auch weil eine fremdenfeindliche Tat nicht ausgeschlossen wird. Der türkische Premier Erdogan besuchte den Brandort.
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Trauernde kommen immer wieder zum ausgebrannten Haus in Ludwigshafen
dpa Trauernde kommen immer wieder zum ausgebrannten Haus in Ludwigshafen

Die Brandkatastrophe von Ludwigshafen bekommt eine immer deutlichere politische Dimension, auch weil eine fremdenfeindliche Tat nicht ausgeschlossen wird. Der türkische Recep Tayyip Erdogan besuchte den Brandort.

Die Brandkatastrophe von Ludwigshafen erhält zunehmend politische Brisanz. Angesichts der Spekulationen über einen ausländerfeindlichen Hintergrund mahnten Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und andere führende deutsche Politiker zur Besonnenheit. Am Donnerstagnachmittag wurde der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einem Besuch am Brandort in Ludwigshafen erwartet. Bei den Ermittlungen gab es zunächst keine entscheidenden Fortschritte. Die Behörden schlossen weiterhin sowohl einen technischen Defekt als auch Brandstiftung nicht aus.

Bei dem Brand in einem von Türken bewohnten Haus waren am Sonntag neun Menschen ums Leben gekommen, darunter fünf Kinder. 60 Personen wurden verletzt. Insbesondere in der Türkei wird darüber spekuliert, dass die Katastrophe einen ausländerfeindlichen Hintergrund haben könnte. Als Indizien dafür gelten die Aussagen von zwei Mädchen, die einen Mann am Tatort beobachtet haben wollen, sowie rechtsradikale Schmierereien, die in dem ausgebrannten Eckhaus entdeckt wurden. Außerdem wurde auf das Haus im August 2006 ein Anschlag verübt. Die zuständige Staatsanwaltschaft Frankenthal dämpfte Hoffnungen auf einen schnellen Durchbruch bei den Ermittlungen. «Wir werden einfach Geduld haben müssen», sagte Oberstaatsanwalt Lothar Liebig. Am Abend wollten die Ermittler über den Stand ihrer Arbeit informieren, in die auch türkische Beamte eingeschaltet sind. Zuvor wollte Recep Tayyip Erdogan seinen ohnehin geplanten Deutschland-Besuch nutzen, um sich in Ludwigshafen ein Bild von der Lage zu machen. Erwartet wurden auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU).

Schäuble warnt vor pauschalen Urteilen

Schäuble warnte in der «Westdeutschen Allgemeinen Zeitung» (Donnerstag) vor falschen Verdächtigungen und Pauschalurteilen. Mit Blick auf die Reaktionen in der Türkei sagte der Innenminister: «Wir fühlen uns genauso betroffen, dass neun Menschen ums Leben gekommen sind, die bei uns gelebt haben. Wir sind in unserer Betroffenheit über Todesopfer nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig.» Auch Beck rief dazu auf, keine Vorurteile zu schüren. Zugleich setzte sich der SPD-Chef gegen Kritik zur Wehr, wonach er einen Anschlag zu früh ausgeschlossen habe. Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach (CDU) sagte, die Politik täte sehr gut daran, in keine Richtung zu spekulieren, sondern die Experten zunächst einmal ihre Arbeit machen zu lassen. «Das gilt ganz besonders und in erster Linie für türkische Parteien und Politiker.» Grünen-Chefin Claudia Roth sagte ebenfalls: «Wir brauchen Besonnenheit und Vertrauen in die Arbeit der Behörden.» Auch der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, mahnte zur Zurückhaltung. Für die These, es könne sich um einen Anschlag handeln, sei es «zu früh», sagte er im Südwestrundfunk. Kritik am Besuch Erdogans äußerte die Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Lale Akgün. Erdogan stehe zu Hause unter Druck, weil er das Tragen von Kopftüchern an den Universitäten zulassen wolle. «Er braucht ein Thema, mit dem er erfolgreich dastehen kann», sagte sie im Deutschlandfunk.

Aleviten kritisieren türkische Medien

Die Alevitische Gemeinde in Deutschland kritisierte das Verhalten von Regierung und Medien in der Türkei. Generalsekretär Ali Ertan Toprak warf ihnen in einem dpa-Gespräch vor, Misstrauen zu schüren. «Das schadet der Integration.» Dass die türkische Regierung ihre eigenen Ermittler nach Ludwigshafen schicke, sei falsch. «Es entsteht der Eindruck: Wir trauen den deutschen Ermittlern nicht.» Außerdem warf Toprak Teilen der türkischen Presse eine «hetzerische und tendenziöse Berichterstattung» vor. Auch Kolat sagte, die Berichterstattung sei in einigen türkischsprachigen Zeitungen «über das Maß hinausgegangen». Unter den neun Toten sind acht Aleviten. In Deutschland gehören rund 800.000 Menschen der liberal-islamischen Glaubensgemeinschaft an, die in der Türkei nicht offiziell anerkannt wird. Wegen der Brandkatastrophe wurde ein für diesen Sonntag vorgesehener ARD-«Tatort» auf den 6. April verschoben. Der Krimi handelt vom Mord an einem türkischen Geschäftsmann in Ludwigshafen.

Erneute Vernehmung zweier Mädchen

Bei den Ermittlungen zur Ursache der Brandkatastrophe sind die beiden Mädchen, die einen Brandstifter gesehen haben wollen, ein zweites Mal vernommen worden. Die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage könne noch nicht eingeschätzt werden, sagte Liebig am Donnerstag der AP. Es sei noch eine dritte Anhörung der Kinder notwendig, erklärte er. Ein Phantombild stehe bisher nicht zur Verfügung. Die Mädchen im Alter von acht und neun Jahren wollen gesehen haben, wie ein Fremder am Sonntag am Hauseingang oder Treppenhaus «mit einem Feuerzeug ein Stöckchen angezündet und das dann neben dem Kinderwagen in den Flur geworfen» habe. Ein Kinderwagen fand sich tatsächlich in dem Haus. Liebig erklärte die Zurückhaltung der Ermittler bei der Bewertung der Aussage damit, dass die Kinder durch den Brand traumatisiert seien. Am Donnerstag untersuchten Spezialisten weiter das ausgebrannte Haus auf Hinweise zur Brandursache. Die Suche mit Leichenspürhunden ist nach Angaben Liebigs abgeschlossen, so dass keine weiteren Opfer mehr unter dem Schutt vermutet werden. Zwei der neun Leichen wurden inzwischen zur Beerdigung freigegeben. «Wir hoffen, dass wir mit den Identifizierungsmaßnahmen vorankommen», sagte Liebig. In dem viergeschossigen Altbau waren 26 bis 27 Personen gemeldet und zur Zeit des Brands rund 60 anwesend. Die Suche nach einem möglichen Brandlegungsmittel wird nach Angaben der Staatsanwaltschaft erschwert durch die große Menge Löschwasser wie auch durch den Umstand, dass sich das Feuer mit großer Macht und Schnelligkeit ausgebreitet hatte. Der Schutt wird Stück für Stück auf Spuren untersucht. Wegen der Einsturzgefahr kommen die Ermittler nur langsam voran; das Gemäuer muss zuvor gesichert werden, und auch danach treten immer wieder instabile Verhältnisse auf, wie Liebig erklärte. Die oberen drei Stockwerke sind überhaupt nicht begehbar. Dort hatten Ermittler mit Spürhunden aber bereits über einen Kran Zugang. Zu dem tätlichen Angriff eines türkischstämmigen Mannes auf einen Feuerwehrmann in einer Gaststätte sagte Liebig, der Verletzte sei am Mittwoch aus dem Krankenhaus entlassen worden. Gegen den Täter liefen Ermittlungen wegen Körperverletzung und Beleidigung. Er hatte dem Feuerwehrmann wegen des Brandes Vorhaltungen gemacht und ihn umgestoßen. (dpa/AP)

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