Münchner Shaolin Marc Gassert: "An manchen Tagen spüren wir die Kraft des Drachens in uns"

AZ-INTERVIEW mit Marc Gassert: Der "blonde Shaolin", Jahrgang 1976, hat selbst bei Großmeistern die asiatische Kampfkunst gelernt. Er ist als Vortragsredner für internationale Unternehmen unterwegs und lebt mit seiner Familie in München.
Mehr Mut, mehr Kraft - wer wünscht sich das in turbulenten Zeiten wie diesen nicht? Marc Gassert hat für Menschen, die sich danach sehnen, ein Buch geschrieben: "Die Kraft des Drachen - Mit der Shaolin-Methode zu Mut und innerer Stärke" (erschienen bei Ariston; Hardcover;
18 €). Im Gespräch mit der AZ erklärt der 47-Jährige, was es damit genau auf sich hat.

"Blonder Shaolin" aus München setzt sich seit der Kindheit mit Kampfkünsten auseinander
AZ: Herr Gassert, bevor wir über Ihr Buch sprechen, zunächst einmal zu Ihrer Biografie: Ihr Vater war Mafiajäger. Das klingt aufregend. Was hat das für Sie als Kind bedeutet?
MARC GASSERT: Mein Vater war beim BKA und ist dann zu Interpol gegangen. Dort hat er unter anderem in Italien bei der Aufklärung des Papst-Attentats mitgemischt und zusammen mit Giovanni Falcone gearbeitet, um die Brigatte Rosse, also die Rote Armee Fraktion, auszuheben. Das war sehr, sehr spannend damals. Mein Vater musste dann - Falcone war tragisch ums Leben gekommen - das Land verlassen, sodass wir als Familie viel umgezogen sind. Die ersten sieben Jahre meines Lebens waren wir in Rom, ab dann wurden die Zyklen kürzer.
War das alles ein großes Abenteuer oder hatten die vielen Umzüge auch Nachteile?
Das war Fluch und Segen zugleich. Mit 15 konnte ich zwar schon vier Sprachen fließend, aber ich habe auch jedes Mal wieder alle Freunde, alle Wurzeln verloren.
Hat Ihnen dabei schon die asiatische Kampfkunst geholfen, um über diese Verluste hinwegzukommen - als eine Art Heimat im Geiste?
Da ist ein Stück Wahrheit dran, ja. Schon im Alter von vier, fünf Jahren haben meine Geschwister und ich uns mit Kampfkünsten auseinandergesetzt. Zunächst erst einmal: Wie befreit man sich aus einer Umklammerung, wohin rennt man, wenn man angegriffen wird, solche Dinge. Das war einerseits eine Ausbildung, um gewappnet gegen Bedrohungen sein zu können, und diese Ausbildung, die in früher Kindheit begann, ist eine Konstante, die Sicherheit und Selbstvertrauen gibt. Das ist, glaube ich, eine Grundvoraussetzung, um sich fremden Kulturen öffnen zu können. Das korrespondiert jetzt mit einer hochkomplexen Welt, die uns alle ja ständig zwingt, dass wir uns Neuem öffnen. Vielleicht fällt mir das jetzt leichter.

Marc Gassert: "Kampfkunst gibt Aufschluss über Ängste und Sorgen"
Mit Ihren Büchern geben Sie anderen Menschen, die nicht so aufgewachsen sind, die Chance, von Ihren Erfahrungen zu profitieren. Sollte also jeder asiatische Kampfkünste praktizieren, um gewappnet fürs Leben zu sein?
Ich glaube, dass die Kampfkunst ein ganz probates Mittel sein kann, um viel Aufschluss über seine eigenen Ängste, Sorgen und dem inneren Schweinehund zu erlangen. Man lernt sich selbst auf intensive Art und Weise ganz neu kennen. Gleichzeitig ist aber die Philosophie-Arbeit in der Kampfkunst, es heißt schließlich Kampfkunst und nicht Kampfsport, vielleicht die spannendere. Dadurch lernen wir Brücken zu bauen zu dem, was die Gefahr oder der Aggressor sein könnte. Mein Meister hat immer gesagt: "Kampf ist das Reiben zweier Kräfte aneinander mit dem Ziel der Versöhnung." Allein in diesem Satz steckt unfassbar viel Wertvolles. Wenn wir die alten Griechen nehmen, die haben das Argumentieren auch als einen Kampf betrachtet - mit dem Ziel, zu einem Konsens zu finden. Das ist eine extrem wichtige Fähigkeit.
Sie haben gerade die griechischen Philosophen angesprochen. Denken Sie, dass in der westlichen Welt den asiatischen Philosophien zu wenig Beachtung geschenkt wird?
Ganz bestimmt. Ich glaube, dass einige der großen asiatischen Philosophen den meisten im Westen gänzlich unbekannt sind, zum Beispiel Zhuangzi. Der war vielleicht die wichtigste Figur in der gesamten daoistischen Welt.
Das kann man von asiatischer Philosophie lernen
Was können wir von diesen asiatischen Philosophen lernen?
Das eine ist: Wenn wir die alten Philosophien aus der Zeit 500 vor Christus aus dem Westen mit dem, was zur gleichen Zeit im Osten durch Buddha, Konfuzius und Laotse passiert ist, übereinanderlegen, werden wir eine überraschende Deckungsgleichheit feststellen.
Welche?
Der Glaube, dass der Mensch grundsätzlich gut ist. Und, dass er es verdient, durch Tugenden geschliffen zu werden. Konfuzius hat gesagt: "Der Mensch muss veredelt werden." Das macht er, indem er sich Tugenden aneignet. Das haben Sokrates und Platon in ähnlicher Weise gesagt.
Es gibt aber einen großen Unterschied.
Ja, bei uns liegt der Fokus auf dem Individuum. Wir sagen: Ich entwickle mich zur tollsten Person, ich erreiche alle meine Ziele. Und in Asien liegt der Fokus eher auf dem Wir. Es geht darum, wie kann ich als einzelner am besten mit dem Kollektiv interagieren, damit für uns alle etwas Sinnvolles dabei rauskommt. Das halte ich für eine wunderbare Ergänzung. Ich finde, man sollte sich das beste aus beiden Welten nehmen. Aber dafür müssen wir die östliche Welt erstmal ein bisschen besser kennenlernen.
"Es gibt einen Unterschied zwischen positivem Denken und Positivismus"
Bei Ihren sieben Säulen der inneren Stärke (siehe unten) geht es unter anderem darum, selbst zu handeln, optimistisch zu sein, proaktiv zu gestalten. Manchmal hat man doch aber auch einfach schlechte Tage.
Natürlich. Ich bin kein großer Freund der "Tschakka, du schafftst es"-Methode. Kollegen von mir sagen, wer sich jeden Tag vor den Spiegel stellt und sagt, du bist toll, dessen Unterbewusstsein glaubt es irgendwann. Das halte ich für Quatsch. Mein Unterbewusstsein würde mir sagen: Du belügst dich gerade selbst. Es gibt einen Unterschied zwischen positivem Denken und Positivismus. Man kann auch zu seinem Spiegelbild sagen, du schaust fahl aus und fix und fertig. Aber, dann würde man den Blick auf etwas Wichtigeres richten, in meinem Fall etwa auf meine zwei bezaubernden Kinder. Dann geht mir das Herz auf. Was eigentlich wichtig ist, ist die unendliche Kraft, die mir meine Familie gibt. Dann muss ich mich nicht selber belügen. Die Frage ist nur, worauf richte ich meinen Fokus: Darauf, dass ich ausgebrannt bin und nicht weiß, wie ich die nächsten Jahre finanzieren soll, oder richte ich ihn auf die Dankbarkeit dessen, was ich habe. Das ist Defizit- versus Seinsorientierung.
Wie verbinde ich mich also mit dem inneren Drachen, mit der inneren Stärke?
Der Drache ist natürlich nur eine Metapher. Aber ich glaube, wir spüren ihn oft, an den Tagen, an denen wir, wie es so schön heißt, im Flow sind. An diesen Tagen arbeiten wir manchmal für zwei oder drei, weil wir mit unserer inneren Kraft verbunden sind.
Können wir uns absichtlich damit verbinden?
Ich befürchte, dass wir es eben nicht absichtlich machen können. Aber in dem Augenblick, wo wir unser Säulenkonto quasi auffüllen, wenn wir beispielsweise unser Netzwerk stärken, indem wir einem alten Bekannten eine nette Mail schreiben, erleben wir Selbstwirksamkeit. Diese Erfahrung baut unsere innere Stärke auf, das zeigt die Forschung. Das Schöne wäre jetzt, dass man nicht wie ein Roboter an den Säulen arbeitet, sondern nach dem Bauchgefühl opportune Momente nutzt. Allein die Frage, das Reflektieren darüber, wie es um meine Selbstbewusstheit, um meine Lösungsorientierung steht, gibt schon ein Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Innere Stärke: Ein Gebäude auf sieben Säulen
Was ist eigentlich innere Stärke? "Ich habe mir überlegt, was sind ihre Säulen, unabhängig von genetischer Disposition, die jeder tragfähig ausbauen kann, um sich stärker und resilienter zu fühlen", sagt Marc Gassert. Die innere Stärke stehe für ihn auf sieben Säulen, basierend auf dem Akronym SHAOLIN. Was dahinter steckt:
Selbstbewusstheit: "Im Bayerischen versteht man darunter fast etwas wie Selbstverliebtheit, Großspurigkeit. Ich reduziere das auf die Fähigkeit der Introspektion. Wer bin ich und wie möchte ich sein? Seinen eigenen Wesenskern kann man nur sehr schwer entfleddern. Aber man kann sich jederzeit fragen, wer möchte ich morgen sein. In dieser Säule besteht die Fähigkeit zu erkennen: Ja, wir sind Mangelwesen, da ist viel Kuddelmuddel in uns, aber das muss nicht so bleiben", sagt Gassert.
Handlungskompetenz: "Viele Menschen geben sich mit ihrem Wissen zufrieden zu sagen, ich habe verstanden, wie das funktioniert - aber sie haben es noch nie umgesetzt." Handlungskompetenz entstehe nur, wenn man Dinge regelmäßig macht. "Damit werde ich auch immer selbstsicherer, entwickle mehr Selbstvertrauen, was für die innere Stärke von unglaublicher Relevanz ist", so Gassert.
Analysefähigkeit: "Jeder von uns kann selber analysieren, was ist riskant, was ist zu zaghaft, was passiert, wenn ich A, B oder C mache. Wir müssen uns schulen, Entscheidungen zu treffen."
Optimismus: Hierbei geht es um die grundlegende Frage, wie man der Welt begegnen möchte. "Hier zitiere ich gerne Richard David Precht, der sagte: 'Ein Optimist, der am Ende merkt, dass er sich geirrt hat, hatte immer noch ein glücklicheres Leben, als ein Pessimist, der Recht hatte.'" Aus dem Optimismus entstehe die Kraft, um weiterzumachen. Angesichts Krieg und Pandemie, dem Klimawandel, fällt Optimismus sicher vielen derzeit nicht gerade leicht. Das seien "berechtigte Ängste", räumt auch Gassert ein. Aber: "Das sind alles Themenbereiche, wo wir als einzelne Bürger nichts machen können. Optimismus ist hier eine Herausforderung, ja, aber es ist fast die einzige Chance, die wir haben. Das Einzige, was wir machen können, ist den Blick nach innen zu richten. Es geht um Resilienz, aber nicht nur als Widerstandskraft, sondern auch als Wiederaufschnell-Kraft. Dass man Energie, die auf einen zukommt, verwandelt und wieder aufstehen kann."
Lösungsorientierung: Manche Menschen verzetteln sich in Problemen. "Auch momentan kommt es mir so vor, als wären wir manchmal so problemverliebt. Anstatt konkret lösungsorientiert zu schauen, für welche Dinge, die ich ändern kann, kann ich jetzt Lösungen suchen. Das ist eine Einstellungsfrage. Will ich in Problemen denken oder in Lösungen. Und wenn ich mir erstmal angewöhne, in Lösungen zu denken, werden viele Gespräche viel konstruktiver, weil man sich für das dauernde Gejammer gar nicht mehr die Zeit nimmt."
Intrinsis: Gassert erklärt: "Das Wort habe ich selber erfunden, es kommt von der intrinsischen Motivation, eine freudvolle Energie, die von innen heraus kommt. Es gibt das berühmte Gleichnis mit dem Hühnerei. Mein Meister hat mir ein Ei gezeigt und gesagt: 'Wenn der Druck von außen zu groß wird, geht Leben kaputt. Wenn die Kraft von innen kommt, passieren wahre Wunder. Wahre Kraft kommt immer von innen.'
Das war ein sehr nachhaltiger Moment für mich. Ich möchte nicht passiv sein, wie eine Sprungfeder und nur auf Druck von außen Widerstand leisten, sondern den Wandel aktiv mitgestalten. Das ist für mich innere Stärke."
Netzwerkfähigkeit: "Ein komplexes deutsches Wort, über das die Chinesen lachen würden. Sie würden sagen: das große Ich, also das Wir", so Gassert. "Wir müssen nichts alleine machen. Aber für das Netzwerk, für diese tragfähige Säule, müssen wir auch etwas tun, beispielsweise mal einem alten Freund ein Lebenszeichen senden."