Mogelpackung für die süßen Kleinen

Verbraucherschützer sind sauer: Sie werfen der Industrie vor, ihre Produkte gesundzurechnen. Die AZ dokumentiert die Tricks der Lebensmittelindustrie.
Im Berliner Hotel Palace findet heute die Rettung unserer Gesundheit statt. Das könnte man zumindest glauben. Auf dem Programm stehen „hochkarätige Gastredner“, die über das Thema „Gesundheit und Sicherheit“ nachdenken wollen. „Sicherheit und Gesundheit sind wesentliche Ziele im Leben“, schreibt der Veranstalter der denkwürdigen Konferenz und macht mehr als 40 Millionen Übergewichtigen im Land Mut: „Eine gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und sichere Lebensmittel sind hierfür unerlässlich.“
So schön, so unaufrichtig. Denn hinter der Veranstaltung steckt der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) – die Lobby der Lebensmittelindustrie. Wer finaziert die Tagung? Coca Cola, Dr. Oetker, Ferrero, Nestlé und Unilever.
Verbraucherschützer fordern einfache Kennzeichnung
Und diese Konzerne tun ihr Bestes, dass Verbraucher nicht wissen, was sie essen und trinken. Im Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Konzernen, Verbraucherschützern und Politikern steht die Kennzeichnung von Lebensmitteln. Verbraucherschützer fordern eine einfache Kennzeichnung, möglichst in Form einer Ampel. So wird es in Großbritannien bereits gemacht (siehe unten). Rot bedeutet eine hohe Nährwertzahl, Grün eine unbedenkliche Zahl. Die Industrie ist dagegen, vor allem die Süßwarenindustrie fürchtet, dass ihre Kunden im Wortsinne nur noch Rot sehen.
Weil die EU jetzt aber auf eine einheitliche Kennzeichnung drängt, sind die deutschen Konzerne aktiv geworden. 2007 begannen sie, ihre Produkte mit Informationen zu bedrucken – auf ihre Weise. Auf der Vorderseite steht der Kalorien-Wert, auf der Rückseite folgen die Werte von Zucker, Fett, gesättigten Fettsäuren und Natrium (Salz).
Verbraucherschützer sind jedoch gerade deshalb sauer: Sie werfen der Industrie vor, ihre Produkte gesundzurechnen. Die AZ dokumentiert die Tricks der Lebensmittelindustrie.
Der Trick mit den Kindern
2000 Kilokalorien darf ein Mensch den Lebensmittelkonzernen zufolge pro Tag zu sich nehmen. Doch dieser Wert gilt für erwachsene Frauen. „Kinder sind außen vor“, kritisiert Angelika Michel-Drees vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Dass die Kleinen einen viel geringeren Kalorien-Bedarf pro Tag haben, wird ignoriert.
Ein Mädchen im Alter von vier bis sechs Jahren benötigt nach Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung gerade mal 1400 Kilokalorien pro Tag. Auch braucht das Mädchen nicht 50 Gramm Eiweiß, sondern nur 17. Auch nicht 70 Gramm Fett, sondern nur 46. Und erst recht nicht sechs Gramm Salz, sondern nur 0,4 Gramm. Die Folge: Für Kinder bedeutet eine Portion im Vergleich zu Erwachsenen ein Vielfaches Plus an Kalorien, Fett, Eiweiß und Salz.
Der Zucker-Schummel:
Wie viel Zucker darf man pro Tag zu sich nehmen? 90 Gramm, meint die Industrie und stützt sich auf eine Studie, die mit EU-Mitteln gefördert wurde. Professor Peter Stehle, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, wirft der Industrie eine „wagemutige Berechnung“ vor. Sein Institut berechnete, dass eine Frau nur 50 bis 60 Gramm Zucker pro Tag zu sich nehmen darf. Bei einem Mädchen im Alter von 4 bis 7 sind es sogar nur 35 Gramm. Der Vorwurf: Die Industrie verharmlost den Zuckeranteil ihrer Produkte.
Der Portionen-Schwindel:
Um die Nährwertzahlen niedrig wirken zu lassen, tricksen die Unternehmen mit den Portionsgrößen auf dem Etikett. Bei der Dose Erdnüsse werden nur 25 Gramm berechnet, das ist gerade mal eine Hand voll. Und bei der Tiefkühlpizza wird nur eine halbe berechnet.
Die Antwort der Industrie auf die Vorwürfe? Nichts wird verheimlicht, alle Zahlen seien seriös, heißt es. Vielleicht fallen den Lobbyisten auf ihrer heutigen Tagung ja neue Antworten ein.
Volker ter Haseborg