Mittelmeer-Flüchtlinge: Die Helfer sind hilflos
Valletta - Ockergelbe zerklüftete Felsen ragen bedrohlich wie spitze Speerpfeile empor. Sie formten einst den Naturhafen von Malta, den Grand Harbour. Jahrtausende haben ihre Spuren in den Steinen hinterlassen. Sie erzählen eine Geschichte, die stets von Fremdbestimmung geprägt war: von Osmanen zur Zeit der Malteserritter, von Franzosen und wenig später von den britischen Kolonisatoren.
Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass heute die Europäische Union (EU) versucht, ihren Einfluss im Mittelmeer zu erweitern. Es geht um die Rettung von Flüchtlingen. Ein Ziel, dem sich mehrere Hilfsorganisationen verschrieben haben. Doch diese fühlen sich von der EU an ihrer Arbeit gehindert.
Die "Seefuchs“, das zweite Schiff der Regensburger Hilfsorganisation Sea Eye, ist seit Samstag bereit zum Auslaufen aus dem Hafen von Malta. Doch am Sonntag läutet Kapitän Sampo Widmann die Schiffsglocke. "Alle an Deck“, ruft der 74-Jährige. Der Einsatz, auf den sich alle vorbereitet hatten, ist geplatzt. Der Grund: "Wir sind nicht mehr sicher.“
Das gemeinsame Ziel, Leben zu retten, ist vorerst Geschichte
Die libysche Küstenwache hat ihre Zwölf-Seemeilen-Zone scheinbar willkürlich ausgeweitet, 70 bis 90 Meilen ins Meer hinein. Möglicherweise ist sie bereit, die privaten Nichtregierungsorganisationen (NGO) zu beschießen, die sich nähern.
Deshalb setzt Sea-Eye-Chef Michael Buschheuer die Rettungsmission vorerst aus. Sein anderes Schiff, die "Sea Eye“, sitzt momentan am Hafen von Zarzis in Tunesien fest.
Der Kapitän sagt: "Die Libyer annektieren einfach Seegebiet“
"Eine Fortsetzung der Rettungsarbeiten ist unter diesen Umständen aktuell nicht möglich. Wir können das auch gegenüber unseren Crews nicht verantworten“, sagt Buschheuer am Sonntag (AZ berichtete).
Die "Seefuchs“ schaukelt leicht im Wind, die Holzbalken knarzen. Ansonsten ist es still. Der Crew, sechs Männer und sechs Frauen, ist die Enttäuschung anzusehen. Das gemeinsame Ziel, rauszufahren und Menschenleben zu retten, ist vorerst Geschichte. Nun sind alle wieder Fremde auf engstem Raum, mit ihren Eigenheiten und individuellen Bedürfnissen, zurückgeworfen auf sich selbst. Eine Zerreißprobe.
Kapitän Widmann, ehemaliger Architekturprofessor und leidenschaftlicher, ausgebildeter Seefahrer, zieht eine seiner buschigen Brauen hoch. "Es ist eine große Enttäuschung, ein politisches Versagen der EU-Politik. Es ist todtraurig.“
Bislang gebe es keine legalen Fluchtwege, keine nachhaltige Asylpolitik, nur fragwürdige Deals. Der gescheiterte Staat Libyen wurde von der EU mit 46 Millionen finanziell unterstützt, um Flüchtlinge wieder zurückzubringen und die Grenzen zu schützen. "Das, was die Libyer machen, kann man mit der Ukraine vergleichen, hier wird einfach Seegebiet annektiert. Im Seerecht wird festgelegt, dass Menschen in Seenot in internationalem Gewässer aufgenommen und gerettet werden müssen. Das passiert beim Verhandeln mit einem Unrechtsstaat. Wir werden fremdbestimmt“, sagt Widmann.
Dennoch steht er hinter der Entscheidung seines Chefs und als Kapitän vor der Herausforderung, die Crew zusammenzuhalten. Es gibt Übungen mit dem Schlauchboot. Außerdem: Knoten machen, rostige Stellen übertünchen und für die Mannschaft kochen. Nebenbei versuchen, sich beim Treppenauf- und abstieg, dem Kletter-Parcours in eines der Hochbetten der Acht-Mann-Kabine, nicht das Genick zu brechen. Hinzu kommen die Langeweile, die Spannungen, das zermürbende Warten auf ein Signal der Politik.
Eine Landshuterin: "Die Ohnmacht ist das Schlimmste“
Auf See stellt man es sich leichter vor, da das Ziel am Horizont nicht verblasst, doch am Hafen von Malta, der nicht viel mehr Charme als ein paar angespülte Colaflaschen und den Geruch von Motoröl und Unrat mit sich bringt, schlaucht die Hilflosigkeit umso mehr.
Das Gefühl hat auch die gebürtige Landshuterin Eva Maria Deininger, die aus einer der Hängematten krabbelt. "Das war erst einmal eine Ohnmacht und dann eine Wut darüber, dass wir nicht rausfahren können. Und, dass Politiker der EU nicht dagegen vorgehen und uns daran hindern, vor Ort zu sein, wenn Flüchtlingsboote kommen.“ Die 53-Jährige lebt in Regensburg und ist Vormund unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Sie hat bereits einen Einsatz hinter sich, bei dem es zu einer Rettungsaktion kam.
Auf einen Einsatz hatte sich auch die Ärztin Johanna Rockenbach (28) vorbereitet. Der Behandlungsraum: zwei Holzliegen, ein kleines Regal – mehr nicht. Die Schiffe des Sea-Eye-Vereins sind nicht dazu gemacht, Flüchtlinge aufzunehmen, nur dafür, sie im Notfall versorgen zu können. Jetzt gibt es kaum noch Boote auf dem Meer. Nicht einmal die "Moonbird“, ein NGO-Flieger, konnte sie sichten. Die Zahlen sprechen für sich: Im August kamen laut Sea Eye bislang 1700 Menschen nach Italien, im Juli waren es 11 459, im Juni sogar 23 526.
Ärztin Rockenbach: "Ich sehe es als ziemlich schrecklich an, dass Libyer die Kontrolle gewinnen und Flüchtlinge zurück in Foltergefängnisse kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dort Auffanglager gibt, wo es Menschen halbwegs akzeptabel gehen kann.“ Diverse Organisationen, darunter Amnesty International, hatten massive Menschenrechtsverletzungen in Libyen moniert.
Die anderen NGO-Schiffe liegen auch am Hafen. Sollten Schlepper neue Schlupflöcher finden, könnte das auch bedeuten, dass es wieder mehr Tote auf dem Mittelmeer gibt.
Allein in diesem Jahr verschlang es schon 2400 Menschenleben. Die Sonne legt sich rot über die Felsen, eine Cola-Dose wird an Land gespült, die europäischen Werte schaukeln am Hafen von Malta vor sich hin, in dem die Zeit stehengeblieben ist.
Lesen Sie auch: Bayerische NGO Sea Eye setzt Rettungseinsätze im Mittelmeer aus