Michael Thoss im AZ-Interview: Leute stehen Schlange für Grundnahrungsmittel

Der karibische Inselstaat Kuba gilt als eines der Länder, das die Corona-Pandemie vorbildlich gemeistert hat. Kubanische Ärzteteams haben zudem in vielen Teilen der Welt bei der Pandemie-Bekämpfung geholfen. Doch während Mediziner und Pfleger im Auftrag der Regierung zeitweise in mehr als 60 Ländern Unterstützung in der Gesundheitsversorgung geleistet haben, spitzt sich die Lage in dem Karibikstaat zu: Das Virus und die daraus resultierenden Schutzmaßnahmen haben den wichtigen Tourismus zum Erliegen gebracht, auch wenn inzwischen wieder Urlaub möglich ist.
Kulturvermittler hat eine Petition geschaffen
Hinzu kommen die zuletzt wieder verschärften US-Sanktionen, die zu Devisenknappheit und einer enormen Unterversorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs führen.
Kulturvermittler Michael Thoss lebt seit zwei Jahren auf Kuba. Er hat zusammen mit anderen Kulturschaffenden und Künstlern eine Petition gestartet, die ein sofortiges Ende der US-Sanktionen fordert. Im AZ-Interview erzählt er, wie dramatisch die Lage inzwischen für die Bevölkerung ist.

AZ: Herr Thoss, Sie sind einer der Initiatoren der Petition "Deutschland mit Europa – Für ein Ende der Blockade gegen Kuba!" mit mehr als 53.000 Unterstützern, darunter Prominente wie Udo Lindenberg, Konstantin Wecker oder der Regisseur Wim Wenders. Was ist Ihre Motivation?
MICHAEL THOSS: Wir sind eine Gruppe von deutschen Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, die schon seit mehreren Jahren in Havanna leben. Wir mussten mit ansehen, wie sich die Lebenssituation der Kubaner durch Corona und die verschärften US-Sanktionen drastisch verschlechtert hat. Deshalb wollen wir die Öffentlichkeit hier darauf hinweisen, dass auf der einen Seite kubanische Ärzteteams mehr als 30 Länder – auch Italien und Andorra – erfolgreich im Kampf gegen das Coronavirus unterstützt haben, Europa aber Kuba in seiner jetzigen Notlage im Stich lässt.
Wie ist die Situation vor Ort?
Genauso wie hier ist die Lebenssituation seit dem Frühjahr von der Corona-Krise geprägt. In Kuba hat man die Gefahr sehr früh erkannt: Ab Mitte März wurde etwa die Maskenpflicht verordnet und die Menschen mussten sich beim Betreten öffentlicher Gebäude desinfizieren. Bis heute gehen Medizinstudenten täglich von Haus zu Haus, untersuchen Risikogruppen und verabreichen ihnen vorbeugend homöopathische Mittel. Es gab zwischenzeitlich einen totalen Lockdown, der Verkehr zwischen den Provinzen wurde eingestellt und man durfte nur noch raus, wenn man sich versorgen oder zum Arzt gehen musste. So konnte die Pandemie schnell unter Kontrolle gebracht werden und Kuba ist abgesehen von der Hauptstadt quasi 'coronafrei'. Das ist einerseits ein großer Erfolg, andererseits hat es natürlich dramatische ökonomische Folgen.
Kuba droht eine Versorgungskrise
Nämlich welche?
Es droht eine Versorgungskrise ungekannten Ausmaßes, weil Kuba durch das US-Embargo jetzt fast völlig abgeschnitten ist von der Außenwelt.
Droht eine Hungerkrise?
Wenn man es weiterdenkt, könnte es darauf hinauslaufen. Denn durch das US-Embargo werden auch dringend benötigte Lebensmittellieferungen unterbunden. Die Menschen stehen den ganzen Tag Schlange für Grundnahrungsmittel – für Reis, Bohnen, Öl. Diese Lebensmittel werden mittlerweile größtenteils staatlich rationiert und verteilt. Auf der anderen Seite haben "Dollarläden" eröffnet. Das heißt, wer Devisen besitzt, kann dort Sachen kaufen, die es in normalen Geschäften schon lange nicht mehr gibt.
Wie wirken sich die Sanktionen noch aus?
Es gibt kaum noch Artzney in Apotheken, es fehlt an Antibiotika, sogar an Aspirin. Während der Corona-Krise blockierten die USA die Lieferung von Medizin und Beatmungsgeräten nach Kuba. Ich habe selbst erlebt, dass ein Schiff im Hafen von Mariel lag, beladen mit zwei Containern voller Rohstoffe für die medizinische Produktion. Dieses Schiff musste auf Druck der US-Administration ungelöscht wieder zurückfahren. Diese versucht, die Corona-Krise dazu auszunutzen, um Kuba in die Knie zu zwingen.
Versorgungsengpässe sind auf Kuba nichts Neues. Warum hat sich die Lage nun so verschärft?
Zum einen dadurch, dass durch den totalen Corona-Lockdown der Tourismus zusammengebrochen ist. Alle Hotels wurden geschlossen, sodass diese Devisenquelle versiegt ist. Zum anderen hat die US-Regierung die Überweisungen der zwei Millionen US-Kubaner, die in den USA leben, eingeschränkt. Sie dürfen jetzt nur noch 1.000 Dollar pro Vierteljahr an ihre Familien in Kuba überweisen. Diese Verschärfungen sind mit 92 anderen Sanktionen der Trump-Administration 2019 in Kraft getreten.
Was hat sich seit Trumps Präsidentschaft geändert?
Präsident Obama hat den Reiseverkehr und auch die Finanztransfers von Exilkubanern gelockert und das Handelsembargo entschärft, sodass Kuba fast einen normalen Handelsverkehr betreiben konnte. Durch die Blockadepolitik der Trump-Administration kommt fast nichts mehr ins Land rein. Leider haben sich auch viele europäische Unternehmen und fast alle europäischen Banken den US-Sanktionen unterworfen. Die Banken, die überhaupt noch Finanztransfers mit Kuba leisten, kann man an einer Hand abzählen. Das trifft natürlich auch Kooperationsprojekte mit Kuba hart. Umso schlimmer, dass Entwicklungsminister Gerd Müller vor kurzem angekündigt hat, die Zusammenarbeit mit Kuba aufkündigen zu wollen. Das halten wir für genau das falsche Signal in dieser schlimmen Zeit und wünschen uns das Gegenteil, dass er nämlich die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba intensiviert.
"Das Aufkündigen der Entwicklungsarbeit ist ein schlimmes Signal"
Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, um die Lage auf Kuba zu entspannen?
Seit Jahrzehnten stimmt die UN-Vollversammlung mit Ausnahme von den USA und Israel gegen diese völkerrechtswidrigen Sanktionen. Aber es passiert de facto nichts. Wir plädieren mit unserer Petition dafür, dass die Bundesregierung und vor allem auch Deutschland im Zuge seiner EU-Ratspräsidentschaft sich aktiv dafür einsetzt, dass diese illegale Blockadepolitik endlich abgeschafft wird und europäische Einrichtungen vor US-Sanktionen effektiv geschützt.