Mein Sohn, der Pflegefall

SACHSENHEIM - 10 Jahre lang schlummerten die Masern-Viren in dem Gehirn von Max. Bis die Erreger 2004 plötzlich "erwachten". Wie die Spätfolgen der Krankheit den 13-jährigen Jungen ins Koma fallen ließen.
Plötzlich hörte Max auf zu schreiben und starrte ins Leere. „Ich dachte, er bockt wegen der Hausaufgaben“, erinnert sich Anke Schönbohm (43) aus Sachsenheim in Baden-Württemberg. Doch Max rebellierte nicht. Was den Buben einhalten ließ, waren die Viren in seinem Gehirn. Sie hatten zehn Jahre dort geschlummert – seit Max im Alter von sechs Monaten an Masern erkrankt war. 2004 „erwachten“ die Erreger. 2006 fiel Max ins Wachkoma. Am Dienstag wird seine Mutter auf einer Pressekonferenz des bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit über das Schicksal ihres Sohnes berichten.
Woher die Masern kamen, weiß Anke Schönbohm nicht. Aus der U-Bahn? Aus dem Supermarkt? Vielleicht. Max war damals noch zu klein für eine Impfung (sie wird erst ab einem Jahr empfohlen) – die Kinderkrankheit erwischte ihn mit voller Wucht. Doch Fieber und Pusteln verschwanden irgendwann. Max erholte sich.
Alles war bestens
Er kam in den Kindergarten, später in die Schule, wurde ein leidenschaftlicher Eishockey-Spieler – alles bestens.
Dann stockte der Zehnjährige im November 2004 plötzlich beim Hausaufgaben machen. Dann auf dem Weg durchs Wohnzimmer. Dann immer öfter. „Not-Aus“ nannte Max diese Blackouts, an die er sich selbst nicht erinnern konnte. Irgendwann wurden aus den „Not-Aus“-Situationen epileptische Anfälle. Für Max und seine Eltern begann eine Odysee von Krankenhaus zu Krankenhaus.
Im Mai 2005 stellte ein Experte am Uni-Klinikum Heidelberg die erschütternde Diagnose: SSPE (subakute sklerosierende Panenzephalitis), eine tödliche Spätfolge der „Kinderkrankheit“. Die Masernviren waren mutiert, hatten sich in Max’ Gehirn eingenistet und angefangen, seine Nervenzellen zu zerstören.
Einer von 5000 infizierten erkrankt an SSPE
Neue Untersuchungen zeigen, dass einer von 5000 mit Masern infizierten Säuglingen an SSPE erkrankt. Allerdings werden die Fälle selten gemeldet. Deutschlandweit sind derzeit 14 betroffene Kinder bekannt, darunter drei aus Bayern.
Für Schönbohms brach eine Welt zusammen. Vor Max allerdings verheimlichten die Eltern ihren Kummer. „Man kann einem Zehnjährigen doch nicht erzählen: In zwei Jahren bist du tot“, sagt Mama Anke. „Als er selbst gemerkt hat, dass alle Dinge, die er mal konnte, Stück für Stück verschwanden – das war die schlimmste Zeit“, sagt Anke Schönbohm. Erst konnte Max sich in der Schule nichts mehr merken, dann nicht mehr schreiben, später kaum noch laufen.
Im März 2006 überwältigten die Viren den Buben – Max fiel nach einem Fieberschub ins Wachkoma. „Die Ärzte gaben ihm noch zwei bis drei Wochen – mehr nicht“, sagt Anke Schönbohm. Max’ Mutter gab trotzdem nicht auf.
Sie kündigte ihren Job als Krankenschwester und versorgte ihr Kind zu Hause. Sie suchte nach neuen Therapie-Ansätzen – und wurde in der Türkei fündig. „Dort ist die Masern-Impfung viel seltener, daher haben die Ärzte mehr Erfahrung mit SSPE.“ Viele türkische Mediziner setzen auf eine Behandlung mit Immunglobulinen, die nun auch Max bekommt. Sie sollen verhindern, dass sich sein kämpfender Körper selbst zerstört.
Fischöl soll den Zustand verbessern
Außerdem stießen die Schönbohms in den USA auf einen Wachkoma-Patienten, dessen Zustand sich mit Hilfe von hochdosiertem EPA (Fischöl) deutlich besserte. Auch damit wird Max nun therapiert. Mit Erfolg: „Es sieht so aus, als könnte die Krankheit zum Stillstand gebracht werden“, sagt Anke Schönbohm. „Seine Pupillen reagieren wieder normal und er kann seine rechte Körperseite wieder bewegen.“
Trotz der Fortschritte macht sich die Mutter keine Illusionen: „Mein Sohn ist ein hundertprozentiger Pflegefall. Er kann nichts.“
Natalie Kettinger