Mein Kind, der Killer

München Einmal sind da die Opfer. Wenn die Eltern der Ermordeten auftreten im Münchner NSU-Prozess, dann zieht es hartgesottenen Beobachtern das Herz zusammen.
Und dann sind da die anderen Eltern. Die Väter und Mütter der Täter. Auch ihre Aussagen sind schockierend, irritierend, gespenstisch. Heute wird wieder so ein Tag im NSU-Prozess, der die Mordserie der Neonazis aufarbeiten soll. Jürgen Böhnhardt soll den ganzen Tag aussagen. Er ist 67, Ingenieur und fanatischer Wanderer. Und wieder wird das Staunen bleiben und die Frage: Was sind das für Eltern, deren Kinder zu Killern wurden. Und wie gehen sie damit um?
Siegfried Mundlos sagte schon aus, er sorgte für den Eklat, als er den Richter beschimpfte. Brigitte Böhnhardt wurde gehört, anderthalb Tage schwankte sie zwischen Leid und Selbstmitleid. Und Annerose Zschäpe, die nichts sagte, die aber auch nichts mehr mir ihrer Tochter zu tun haben will. Drei Meter saß die Hauptangeklagte von ihrer Mutter entfernt. Die sah die Tochter nicht mal an. #
So unterschiedlich diese Eltern im Prozess auftreten, sie haben eines gemeinsam: Ihre Kinder bildeten eine rechtsradikale Mörderbande, laut Anklage hat der NSU zehn Menschen umgebracht, neun aus rassistischen Motiven. Wie leben diese Eltern, zumeist sind es Akademiker, alle sind sie unbescholten, heute? Wie ertragen sie dieses Gefühl, so komplett versagt zu haben? Wie lebt man mit dieser Schuld? – Sind Mama und Papa denn überhaupt schuld?
„Nein, sie sind nicht schuld“, sagt die Münchner Psychotherapeutin Adriana von Schelling. Sie hat viel mit Jugendlichen gearbeitet, zu der Diplom-Psychologin kommen die Patienten, wenn das Leben aus dem Ruder zu laufen droht. Aber auch Eltern kommen, deren Kinder auf die schiefe Bahn geraten sind. „Mutter und Vater die Schuld zuzuschieben, das wäre falsch“, sagt von Schelling: „Es kann für die Eltern in diesen krassen Fällen wie bei den NSU-Morden nur um die Übernahme von Verantwortung gehen.“ Und damit tun sich die Eltern der NSU-Bande sehr schwer.
Bestes Bespiel: Siegfried Mundlos. Der emeritierte Professor für Informatik schilderte vor Gericht ein klar umrissenes Welt- und Feindbild: „Der Verfassungsschutz“ habe seinen Uwe „in diese Sache hineingetrieben“. „Naiv“ sei sein Uwe gewesen. Das rechte Gedankengut, ja, das habe er bemerkt, sagt der Vater Mundlos, aber: „Uwe war ein hilfsbereiter Junge“, er habe sich „rührend um Robert gekümmert“, den um zwei Jahre älteren Bruder. Robert ist schwerst behindert.
„Uwe hätte alle Chancen gehabt“, sagt der Vater, sogar das Abitur hätte er machen können – „wenn der Verfassungsschutz nicht gewesen wäre“. „Man nennt das Spaltung“, sagt Psychologin von Schelling: Hier das Gute, dort das Böse. Jemand, der so lieb mit Kindern und Geschwistern umgeht, der kann kein böser Mensch sein – das ist die Logik des Professors.
Die Bösen, das sind nicht die, die neun Menschen in der ganzen Republik nur deshalb aus nächster Nähe erschossen, weil sie Ausländer waren: „Es gab zwölf Opfer“, behauptet der Vater – die Killer Mundlos und Böhnhardt nennt er im selben Atemzug mit den exekutierten Klein-Unternehmern und der toten Polizistin. „Die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen“, erkennt die Fachfrau von Schelling in solchen Weltbildern.
Hätten diese Eltern früher die Alarmglocken hören sollen? „Eindeutige Alarmzeichen gibt es nicht“, sagt von Schelling: „Aber funktionierende Kommunikation in den Familien ist ein Schlüssel.“ Es sei „schwer vorstellbar, dass in dieser Familie geduldig zugehört, gesprochen oder sachlich diskutiert wurde“.
Stattdessen wurde geschimpft, auf das System nach der Wende, wo Arbeitsplätze platt gemacht wurden, wo der Staat wieder der Feind war. Und es wurde verdrängt.
Zwar gab der dominante Vater Mundlos nicht die Leiter raus, mit der der Sohn rechtsradikale Plakate in der Stadt aufhängen wollte. Was auf den Plakaten stand, das wollte der Professor aber nicht wissen.
„Ich kann mich nicht entschuldigen“, hat Brigitte Böhnhardt gesagt, „ich habe ja nichts getan“. Kurz nachdem das ganze Ausmaß der NSU-Taten bekannt wurde, sagte sie das in einem NDR-Interview.
Der Sohn lebte mit Mundlos und Zschäpe schon drei Jahre im Untergrund, da trafen Böhnhardts Eltern „die Drei“ noch. Sie steckten Uwe gelegentlich 500 Mark zu, „damit sie sich was zu essen kaufen konnten“. Und für Zschäpe brachten sie Plätzchenrezepte zu den konspirativen Treffen auf dem Autobahn-Parkplatz.
Die Eltern wussten nicht, dass die Uwes zu diesem Zeitpunkt, 2002, schon vier Morde auf dem Gewissen hatten; die Mutter ahnte nicht, dass die Hand, die sie drückte, mit der Ceska-Pistole Menschen erschossen hatte.
Das kam erst 2011 heraus, als sich die Uwes im Wohnmobil in Eisenach umbrachten. „Vielleicht ist es besser, dass er tot ist“, hat Brigitte Böhnhardt 2012 gesagt: „Wir hätten doch nie gewusst, wie wir heute damit umgehen sollten.“
Der Dokumentarfilmer Andres Veiel sprach für sein Drama „Blackbox BRD“ von 2001 mit Eltern von RAF-Terroristen: „Es gibt eine gnadenlose Einsamkeit der Eltern, die ihre Gefühle mit niemandem teilen können“, sagte er der „Welt“. Praktisch niemand distanziere sich von den Kindern. Wie bei Brigitte Böhnhardt. Im NSU-Verfahren vermittelte sie den Eindruck einer Mutter, die sich nie lossagen würde von ihrem Sohn.
Brigitte Böhnhardt (65) ist gelernte Sonderschulpädagogin, sie kümmerte sich, ging für ihren Sohn aufs Jugendamt, besorgte ihm Schulen, Lehrstelle, Auto. Springerstiefel durfte er nicht tragen zuhause, Rechtsrock nicht hören. „Wir haben hart diskutiert.“
Die Mutter hat anscheinend alles richtig gemacht. Es hat nichts genützt. „Die Taten zeigen, wie wenig Bindung die Kinder an die Welt der Eltern hatten“, sagt die Psychologin: „Man hat als Eltern weniger Macht, als man meint“, und: „Ein guter Psychologe ist nicht automatisch ein guter Vater, eine gute Pädagogin nicht unbedingt eine gute Mutter.“
Stundenlang sagten Vater Mundlos und Mutter Böhnhardt aus. Spät, sehr spät fanden sie Worte des Bedauerns für die Opfer. Können die Hinterbliebenen nicht mehr Selbstkritik erwarten? „Erwarten kann man gar nichts“, sagt von Schelling. Was würde sie den Eltern raten, kämen sie zu ihr? „Das wäre schon ein Riesenschritt, ein Eingeständnis, dass sie Hilfe brauchen.“
Das sei nicht automatisch zu erwarten: „Aber dann könnte man sie fragen, ob sie sich in Initiativen für Opfer rechter Gewalt engagieren wollten.“ Das wäre „eine Chance“. Die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, die „Unfähigkeit zu trauern“, wie sie das große Psychologen-Paar Alexander und Margarete Mitscherlich in den sechziger Jahren formulierten, die kann man bekämpfen.
2003 sprachen Christel und Günter Steinhäuser im „Spiegel“ über ihren Sohn Robert. Im Jahr zuvor, am 26. April 2002, war er am Tag der letzten Abitur-Prüfung ins Gutenberg-Gymnasium von Erfurt gekommen. In seiner Tasche hatte er ein Sturmgewehr und eine Glock-Pistole. In zehn Minuten erschoss er 16 Menschen und zum Schluss sich selbst.
„Vor dem Einschlafen sind es die letzten Gedanken, nach dem Aufwachen sind es die ersten“, sagen beide Eltern auf die Frage, ob sie sich das Hirn zermartern über Fehler und verpasste Chancen. Sie reden offen über Versäumnisse und Versagen. Die Möglichkeit, der Schule, „dem System“ eine Mitschuld für das Geschehen zu geben, weisen Christel und Günther Steinhäuser schroff zurück: „Es steht uns nicht zu, Vorwürfe zu machen“, sagt der Vater und: „Es mir wichtig, dass wir nicht mit dem Finger auf die Schule zeigen.“
Aber auf die Frage: „Hassen Sie Ihren Sohn manchmal?“, da sagt die Mutter: „Überhaupt nicht... Mein eigenes Kind hassen? Ich finde es so furchtbar, dass ich ihn allein gelassen habe.“ Matthias Maus